RSS Feed

Author Archive

  1. Von drauß‘ vom Walde komm ich her

    November 16, 2015 by Vince

    Dünne Regenfäden fallen aus unbestimmter Höhe herab und weben auf der Erde ein omnipräsentes Netz aus Feuchtigkeit. Die Stromvorräte neigen sich dem Ende zu, die Solarpanels ächzen nach Nahrung, doch die dicke graue Wolkenwand zeigt sich als kompromissloser Wächter der Distributionswege. Kein Durchkommen möglich – Versuche zwecklos. Wie lang die Schimmelpilze wohl noch auf sich warten lassen, die vermutlich mit tropfenden Mäulern schon gierig die zahlreichen zum Trocknen aufgehängten Kleidungsstücke beäugen, deren Liste aussagekräftigster Eigenschaften schon seit Tagen vom gleichen Merkmal angeführt wird: Nässe.

    Begleitet vom lieblichen Jaulen singender Hunde ertönt der durchdringend metallische Klang eines Löffels auf dem zu ebendiesem Zweck umfunktionierten Zahnkranz eines Fahrrads. Da dieser Geräuscherzeugungsprozess weder sonderlich viel Kraft, noch monetäre Zahlungsmittel oder der gleichen, höchstens ein paar Nerven kostet, geizt die für den Klang verantwortliche Person auch nicht mit Wiederholungen des selbigen. Nach und nach trotten verschlafene Gestalten mit halb geöffneten Augen aus allen Ecken, um sich am gewohnten Platz zu einem Kreis zu versammeln. Das Geräusch ist inzwischen verklungen, die schwingende Luft hat sich beruhigt. Bevor man jedoch anfangen kann, die eingetretene Stille zu genießen, wird sie erneut von einem jähen kollektiven Schrei aus allen anwesenden Mündern durchdrungen: „Moooorning Ciiircleee!!!“, schallt es durch die 24°C kalte Luft dieses frühen dunkelgrauen Morgens. Ein bisschen Dehnen, ein bisschen Lockern – dann ist es Zeit für den „Sadhana Stretch“: Arme weit ausbreiten, dann alle Menschen umarmen und ihnen einen zauberhaften Morgen wünschen.
    Moment mal…Sadhana Stretch? …Sadhana? …Sadhana Forest? Genau, Sadhana Forest! Diese komische Öko-Kommune irgendwo da draußen im Wald vor Auroville. Denn dort wohne,
    lebe und arbeite ich jetzt seit nunmehr zwei Wochen.

    CIMG3913

    Seit meinem letzten Eintrag sind ja nun schon ein paar viele Wöchelchen ins Land gezogen, auf dem sich in dieser Zeit natürlich auch einiges ereignet hat. So habe ich nach und nach gemerkt, dass ich mit der Situation in meinem bisherigen Projekt „Pitchandikulam“ und in Auroville irgendwie noch nicht so ganz zufrieden bin. Im Projekt fehlte etwas Struktur und die Möglichkeiten wirklich einmal produktiv zu sein, waren oft eher rar. Das Leben in Auroville war zwar luftig, leicht und locker, ich hatte viel Spaß, doch irgendwie war das noch nicht das, was ich in diesem Jahr erfahren möchte. Zu vertraut, zu statisch, zu komfortabel. Ich wollte mehr, beziehungsweise…weniger. Mehr neue Eindrücke, mehr Begegnungen, mehr Naturnähe, mehr Nachhaltigkeit, mehr Einfachheit – weniger Komfort und weniger Deutsch. Es ist interessant, wie sehr sich der Charakter ändert, wenn man eine andere Sprache spricht, gerade wenn der ursprüngliche Charakter sich so auf einen ausgeprägten Umgang mit der Muttersprache stützt, wie ich es bei meinem wahrzunehmen gedenke. Wenn, aufgrund mangelhaften Vokabulars in Englisch, diese intensive Nutzung von Sprache nicht mehr möglich ist, fallen damit auch alle Charakterzüge weg, die sich aus dem vertrauten Gebrauch dieses Medium heraus entwickelt haben. Übrig bleibt ein reduzierteres Ich; ein rationaleres, vielleicht auch langweiligeres. Es ist aber auch ein Ich, bei dem all das an die Oberfläche tritt, was vom „deutschsprachigen Charakter“ (Oh Gott, klingt das grausig!) zuvor überlagert wurde. So erlebe ich im Moment nicht nur die Lebensweise in dieser Community und die ständig wechselnden Menschen aus aller Welt, sondern auch mich selbst auf eine neue Art.

    CIMG3915

    Und wenn wir in den Talks zusammensitzen, um über Veganismus oder Klimawandel zu diskutieren oder in den Sharings unsere Gedanken teilen; wenn ich mit meinen Händen Kompost aus Menschenkacke zerbrösele und die Kids der Community in der „Non-Talent Show“ ihre selbsterfundenen Geschichten und Lieder zum Besten geben; wenn wir stundenlang schweißüberströmt auf dem selbstgebauten Fahrrad-Stromgenerator strampeln, um Licht fürs Abendessen zu bekommen oder ich in der Mainhut sitze und plötzlich eine Schlange von der Decke fällt, um anschließend mit einem Blick reiner Selbstverständlichkeit weiter ihres Weges zu ziehen; wenn die neue Hauptkomissarin der lokalen Polizei zum Abendessen zu Besuch kommt, um sich die Community anzuschauen und dann mit stolzerfüllter Brust ihr Smartphone herumzeigt, auf dem sie ein Bild von sich neben dem ehemaligen Premierminister Rajiv Gandhi präsentiert; ja, und wenn wir im Forest einen neuen Erdwall bauen, um Erosion zu stoppen und bei strömendem Regen im mundproduzierten Takt eines Jazz-Schlagzeugs auf dem Wall herumtanzen, um die Erde zu verdichten – dann bin ich jedes Mal ein bisschen mehr davon überzeugt, dass Sadhana die Art von Projekt verkörpert, in der ich in diesem Jahr leben und wirken möchte. Eine Community, in der man nie weiß, was aus der kreativen Synthese all dieser inspirierenden Energien entstehen wird, die hier präsent sind; in der man nur weiß, dass etwas entstehen wird.

    CIMG3912  Stromgenerator für Regentage (wunderbar ineffizient für die Produktion von Elektrizität, aber bestens geeignet für ein ausgedehntes Training der Beinmuskulatur!)


  2. Besuch im Nadakuppam Environmental Education Centre

    September 15, 2015 by Vince

    Letzte Woche haben Caro und ich unseren freien Samstag dafür geopftert – oder besser gesagt: Wir haben die wunderbare Chance dazu bekommen, im Rahmen unseres Projektes „Pitchandikulam Forest“ in das ca. 30-40km nördlich von Auroville gelegene Dorf Nadakuppam zu fahren, wo Pitchandikulam mit den „NEEC“ einen zweiten Standpunkt aufgebaut hat, um deren Arbeit von Auroville auch auf dessen Umgebung, die sog. „Kaliveli-Bioregion“, und dementsprechend in die dort ansässigen Dorfkommunen auszuweiten.

    Die Arbeit dort begann damit, dass Pitchandikulam vor ca. 8 Jahren anfing, die dort gelegene Nadakuppam Village School zu unterstützen, indem z.B. sanitäre Anlagen mit natürlichem Wasseraufbereitungssystem und weitere Lehrgebäude errichtet wurden, Bäume gepflanzt, Zäune und ein Gemüsegarten angelegt, sowie diverse Umweltbildungsprojekte und -workshops durchgeführt wurden und werden. Mittlerweile übernimmt dies vorrangig das schulinterne Lehrpersonal, das, von Pitchandikulam ausgebildet, die Lehrprogramme über Ökologie, Abfall- und Wasserbewusstsein, heimische Flora und Fauna, sowie organische Landwirtschaft mit sehr praktischer Ausrichtung inzwischen nahezu selbstständig durchführt. Wirklich beeindruckend ist dabei, dass sich seit dem Beginn der Arbeit dort die Rate der Schüler mit erfolgreichem Abschluss von 9,3% auf 80% erhöht hat.

    Weiterhin sind dort das Nadakuppam Field und der Nadakuppam Forest entstanden bzw. gerade immer noch dabei, zu entstehen.

    CIMG3837Wasseraufbereitungssystem der Schule

     

    Nadakuppam Field

    Das Field bietet Raum für die Arbeit mit benachteiligten Frauen der Region, welche sich zu Arbeitsgruppen zusammenschließen, die dann in der Perspektive zu kleinen, sich selbst tragenden Unternehmen heranreifen sollen.

    Pitchandikulam bietet dazu verschiedene Workshops, z.B. zu traditioneller Pflanzenheilkunde oder verschiedenen Handwerken, sowie zu Marketing an und unterstützt die Gruppen bei der Vermarktung ihrer Produkte innerhalb Aurovilles und der Region.

    Mittlerweile sind daraus schon 24 Unternehmen hervorgegangen, die u.a. pflanzliche Medizin, ayurvedische Nahrungsmittel, Lampenschirme und Hängematten produzieren. Einige davon arbeiten und finanzieren sich bereits komplett selbstständig. Ein Unternehmen, das Spirulina-Algen züchtet und verarbeitet, befindet sich auch direkt auf dem Gelände. Außerdem betreuen die Frauen dort das Tree-Nursery, welches die Grundlage für die Aufforstungsarbeit im Nadakuppam Forest bildet.

    DSC00583CIMG3834   Workshop zu Pflanzenheilkunde                   Spirulina-Farm

     

    Nadakuppam Forest

    Der Forest hat Caro und mich persönlich am meisten interessiert, da es ja schließlich auch in erster Linie die Aufforstungsarbeit war, wegen der wir uns für das Projekt entschieden haben. Die Fläche des Waldes umfasst momentan 35 Acres (das sind ca. 14 Hektar), ist durch den Zukauf von weiteren Flächen aber stetig am wachsen. Dieser erst etwa 7 Jahre junge „Forest in the Making“ ist zum einen deshalb so interessant, weil dort wirklich von Anfang an zu beobachten ist, wie aus den trockenen Brachflächen langsam wieder ein richtiger Wald heranwächst, während der ausgewachsene, dichte und nunmehr schon über 40 Jahre alte Wald hier in Auroville nur noch sehr schwer erahnen lässt, aus welchem wüstenartigen und erodierten Boden er einst emporgesprossen ist.

    Zum anderen ist das Konzept dieses „integrativen Waldes“ sehr interessant, in dem es darum geht, u.a. auch landwirtschaftliche Flächen in den Wald zu integrieren. Diese werden organisch bewirtschaftet, um das Gebiet auch für die Landbevölkerung nutzbar zu machen und deren Akzeptanz für das Projekt zu gewinnen, das anfangs eher auf Unmut stieß, da das Bewusstsein für den langfristigen ökologischen Nutzen, wie so oft in dieser Welt, weniger präsent ist als das, für den kurzfristigen wirtschaftlichen. Vor allem aber, um zu zeigen, dass der Mensch durchaus in einer gesunden Koexistenz mit der Natur leben und auch wirtschaften kann.

    CIMG3819organische Landwirtschaft innerhalb des Waldes

     

    Am spannendsten aber ist das Wassermanagement-Konzept des Nadakuppam Forest, bei dem über die gesamte Fläche ein durch Kanäle und kleine Ablaufrinnen verbundenes System aus Teichen und Wasserauffangbecken angelegt wurde, welches dazu dient, das Niederschlagswasser der etwa dreimonatigen Monsunzeit langfristig auf dem Land zu halten und für die restliche, quasi vollkommen trockene Zeit des Jahres verfügbar zu machen. Das System wurde in entsprechend kleinerem Maßstab, einfach von den „Kaliveli-Wetlands“, dem Gebiet in dem auch Nadakuppam liegt, abgeschaut und kopiert. Dieses spezielle Wassernetzwerk hat sich dort auf ganz natürliche Art gebildet.

    CIMG3833CIMG3824vorher: Brachfläche                              jetzt: junger Wald mit Wassersystem

     

    Wieder einmal ein Beispiel dafür, dass bei technischen Fragen oft einfach nur ein Spaziergang durch die Natur, sowie ein genaues Beobachten und Verstehen derselbigen genügt, um das Problem zu lösen…

    Nach dieser wunderbaren Exkursion sind wir schon sehr gespannt darauf, noch tiefer in die Ökologie des hier heimischen „Tropical Dry Evergreen Forest“, kurz TDEF einzutauchen und freuen uns darauf, endlich auch selbst anzupacken und uns die Hände (vermutlich auch noch mehr) schmutzig zu machen, um bei der Aufforstungsarbeit und dem Anlegen des Wassersystems mitzuhelfen.

     


  3. Ein erster Eindruck

    September 8, 2015 by Vince

    Knapp 2,5 Wochen sind nun schon vergangen, seit ich zum ersten Mal meine Füße auf den indischen Boden setzte, auf dem sie nun über das kommende Jahr dahinwandeln sollen. Zeit genug, um einen kleinen ersten Eindruck zu gewinnen, den ich hier einmal teilen möchte:

    Nachdem nun die Einführungswoche vorbei ist, in der wir zusammen mit unseren KoordinatorInnen und MentorInnen durch Auroville tingelten, alle verschiedenen Projekte, in denen wir arbeiten werden und die Hotspots Aurovilles, wie Town Hall, Solar Kitchen und Matrimandir besuchten, sowie Vorträgen über die Entstehungsgeschichte, die ökonomische und politische Situation Aurovilles lauschen durften, ist zuerst einmal zu sagen, dass wir außerhalb dieses organisierten Programms und ohne Betreuung durch Locals wohl niemals in so kurzer Zeit einen solch umfassenden Überblick von Auroville und dessen Geschehen gewonnen hätten, da dieses eben vorrangig innerhalb der Projekte abläuft, die sich einem Besuch zwar meist nicht verweigern, trotzdem aber auch nicht als öffentliche Schauplätze fungieren, weshalb sie für unabhängige Kurzzeitbesucher eher schwieriger zu erleben sind. Gerade jetzt am Anfang war das zwar eine nicht unerhebliche Menge an neuem Input, der erst einmal verarbeitet werden muss, doch bin ich natürlich sehr dankbar dafür, diese Chance bekommen zu haben.

    Und trotz dieser Masse an Impressionen, bleibt es nur ein Kratzen an der Oberfläche – ein erster Eindruck, der vertieft werden möchte. Den ich mich wirklich freue zu vertiefen, denn Auroville, wie ich es bisher erlebte, scheint ein Ort vielfältigster Ideen und damit eines unglaublichen Kreationspotenzials zu sein, das darauf wartet, genutzt zu werden. Ob Ökologie, Bildung, Soziales, Nachhaltigkeit, Spiritualität, Handwerk, Technik, oder Architektur – ist mensch an etwas interessiert, kann er fast sicher sein, es in irgendeiner Form hier in Auroville zu finden.

    Vom Ideal der menschlichen Einheit zwar noch merklich weit entfernt, wirkt Auroville dennoch wie ein großer Ort der gemeinsamen Begegnung und vor allem des gegenseitigen Lehrens und Lernens. Ein Ort der Praxis, des Experimentierens, des Scheiterns und des Neu-Versuchens. Dabei zeigt uns diese Learning-by-Doing-Mentalität auf so schöne Weise, dass es im Prinzip keinerlei Voraussetzungen oder sonderlicher Professionen bedarf, um Großes zu erreichen.

    Und das stimmt mich wirklich zuversichtlich – nicht zwangsläufig für Auroville, sondern generell dafür, dass Theorien eines gesellschaftlichen Wandels und das nur allzu gern belächelte „Weltverbesserer-Denken“ gar nicht so utopisch sind, wie sie oft dargestellt werden. Wir müssen uns einfach nur trauen und damit beginnen, sie in die Tat umzusetzen.
    Und obwohl in Auroville längst nicht alles so Friede, Freude, Eierkuchen ist, wie es dessen Philosophie eigentlich vorsieht und es viele Dinge kritisch zu hinterfragen gilt, ist die Stadt in meiner Hinsicht für diesen Mut zur Tat und zum Versuchen alle Mal ein Vorbild.

    DSC00594 - Kopieein Ort der Begegnung…