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‘Kritik’ Category

  1. Meine Kritik an der Kritik

    August 18, 2019 by Alina

    oder „Die drei Kategorien von Reaktionen auf mein Auslandsjahr“

    Wenn ich auf die letzten Wochen zurückblicke, habe ich vielen verschiedenen Personen von meinem Vorhaben – über Weltwärts nach Indien zu gehen – erzählt und grob kann ich die Reaktionen in drei Kategorien einteilen:


    Kategorie 1: Die Unterstützenden

    Typische Aussage: „Wow, wie cool, was für ein Abenteuer. Finde ich voll spannend.“

    Danke an euch. Ich bin mir sicher viele von euch, die das hier gerade lesen, fühlen sich hiermit angesprochen. Trotzdem ist es natürlich möglich, dass euch die anderen zwei Reaktionen auch schon durch den Kopf gegangen sind. 😊


    Kategorie 2: Die Besorgten

    Typische Aussage: „Indien? Oh mein Gott! Wie gefährlich. Und da willst du wirklich hin? Also für mich wäre das nichts.“

    Warum warnen mich eigentlich immer die Leute vor einem Land, die selbst noch gar nicht da waren? Woher wissen die Personen eigentlich immer so genau wie gefährlich es ist?

    Szenen aus Filmen und Berichte aus Nachrichten halte ich nicht gerade für eine repräsentative Darstellung eines Landes. Vor allem deshalb, da meist nur von Schreckensmeldungen und von besonders krassen Ereignissen berichtet wird, anstatt die Normalitäten und Gegebenheiten des Alltags zu zeigen. Sobald das Schlagwort „Indien“ fällt, erscheinen Bilder in unseren Kopf. Doch woher kommen diese Assoziationen? Sind es diese Bilder, die für uns das ganze Land definieren?

    Stereotype?

    Ich schreibe bewusst von „wir“, da ich mich von dieser Stereotypenbildung gar nicht ausschließen kann und will. Stereotype sind okay, solange sie nicht unreflektiert bleiben. Denn es ist ja nicht so, dass sie komplett falsch wären, aber sie repräsentieren eben nicht das Gesamte. Nur weil etwas unbekannt oder anders ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es falsch oder schlechter ist. Dieser Gedanke von der Überlegenheit von Deutschland über Indien kann vor allem auf koloniale Strukturen zurückgeführt werden. Dieser koloniale Blick kennzeichnet sich beispielsweise durch die Abwertung des Anderen durch die Konzentration auf und die ständige Wiederholung von Mängeln und Defiziten.

    Unsere Beziehung zum Globalen Süden ist maßgeblich durch das Erbe des europäischen Kolonialismus geprägt – sowohl ökonomisch als auch politisch und kulturell. Die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, ihre Geschichte, die sozialen Stellungen, die wir darin einnehmen (bezogen auf Geschlecht, Klasse, Rassismus, Gesundheit etc.), sind für jede Einzelne von uns eine Art Vorgeschichte: Durch sie haben wir gelernt, andere Menschen und Gesellschaften auf eine bestimmte Art wahrzunehmen und ihnen entsprechend zu begegnen. […]

    Der europäische Kolonialismus beinhaltete nicht nur die Besetzung bestimmter Gebiete und war dementsprechend nicht mit dem Abzug der Kolonialmächte beendet.
    Er ist ein Wissens-, Herrschafts- und Gewaltsystem, das fortlebt und unser Denken und Handeln bewusst oder unbewusst bestimmt.


    Koloniale Machtverhältnisse umfassen insbesondere drei Dimensionen:

    Eroberung, Kontrolle und ökonomische Ausbeutung sowie die Zwangsintegration in ein globales kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem

    Die weltweite Verbreitung europäischer Wissenssysteme und die Formung des Bewusstseins der Kolonisierenden und Kolonisierten

    Rassismus (= ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das Weißsein und Westlichsein bevorteilt und Schwarzsein/ „Nicht-Weißsein“ und „Nicht-Westlichsein“ benachteiligt)

    Quelle: Broschüre: „Mit kolonialen Grüßen – Berichte von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“

    Um nicht immer wieder diese gleichen Stereotype zu reproduzieren und diese kolonialen Strukturen wieder und wieder fest zu fahren, müssen wir uns offen begegnen, indem wir aufeinander zugehen, aus unserer Bequemlichkeitszone heraustreten. Wir brauchen Integration statt Teilung; wir brauchen Völkerverständigung; wir brauchen Austausch, um zu kapieren, dass wir alle eins sind. Überall auf dieser Welt gibt es Probleme und Gefahren, sowie auch Miteinander und Fürsorge. Überall gibt es Menschen, die die gleichen Sorgen und Wünsche haben. Vielleicht ist gerade dies eine der größten Herausforderungen der Menschheit: Das Überwinden der Grenzen zwischen denen, die als „wir“ gelten, und denen, die wir als „die anderen“ sehen.


    „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“

    Alexander von Humboldt


    Kategorie 3: Die Kritischen

    Typische Aussage: „Aha und was bringt das? Was kannst du schon in Indien helfen? Hilf doch lieber hier vor Ort.“

    Entwicklungshilfe im Entwicklungsland?

    Okay, da muss natürlich erstmal geklärt werden, was hier eigentlich wem hilft. Es ist ein Missverständnis, wenn dieser Freiwilligendienst mit Entwicklungshilfe gleichgesetzt wird: Das ist und soll er gar nicht leisten. Genau wie Entwicklungshilfe, sollte auch das Wort „Entwicklungsland“ vermieden werden, da damit hierarchisierende eurozentrische Vorstellungen von Entwicklung zum Ausdruck kommen, denen diese Länder zu folgen hätten. Alternativ können die Begriffspaare Globaler Süden bzw. Norden benutzt werden, um die unterschiedlichen politische, ökonomische und kulturelle Positionen im globalen Kontext zu benennen.

    Entwicklungszusammenarbeit?

    Im „weltwärts“-Kontext wird von Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. Das Wort Zusammenarbeit suggeriert den Austausch auf Augenhöhe: Dass ich mich einbringe, aber auch viel lerne, dass ich Neues aufnehme und reflektiere – neue Mentalitäten und Perspektiven verstehe. Also auf eine Ebene von Geben und Nehmen gehe, weg von postkolonialen Strukturen, bei denen sich der globale Norden dem globalen Süden überlegen fühlt.

    Entwicklung für Deutschland?

    Und was ist, wenn ich den Begriff „Entwicklung“ gar nicht unbedingt auf Indien beziehe, sondern auf Deutschland? Denn bei der Teilnahme an einem Freiwilligendienst darf nicht vergessen werden, dass es nicht nur um das eine Jahr im Ausland geht, sondern auch was danach daraus entsteht. Mit den neuen Perspektiven und Ideen, die ich in Indien dazu gewinne, will ich mich zurück in Deutschland aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels beteiligen.


    „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie ist ist, der will nicht, dass sie bleibt.“

    Erich Fried

    Wie dieses Zitat so schön ausdrückt: Es läuft etwas falsch, wenn es keine Veränderung gibt. Entwicklung ist omnipräsent, in jedem Land, überall herrscht zu jederzeit ein Prozess vor. Ich wage also einen Blick nach links und rechts, um – wie man so schön sagt – meinen Horizont zu erweitern, so dass ich irgendwann nicht mehr alles nur durch die deutsche Brille sehe, sondern auch Teile durch die tamilische Brille sehen kann. Und somit immer noch irgendwie deutsch denke, aber eben auch weiter. So komme ich im Optimalfall zurück nach Deutschland voller Inspiration, Motivation und Ideen im Gepäck. Daher lautet mein Motto für meinen Auslandsaufenthalt:

    Ich gehe hin, um zu lernen, nicht um zu lehren.“


  2. 50 Jahre Auroville

    März 9, 2018 by Mira

    Die Temperaturen fangen so langsam wieder an merklich über 30°C zu steigen, der von den trockenen Sandpisten aufgewirbelte Staub lässt die Pflanzen rotbraun erscheinen und der Winter ist dem Sommer definitv am Weichen. Dennoch wird Auroville immer noch von Unmengen an Touristen überrannt, was einerseits natürlich zu einem unüberschaubaren Angebot an Aktivitäten führt, aber andererseits z.B. auch zu einer überfüllten Solar Kitchen. Habe ich gesagt „trockene Sandpisten“? In den letzten Wochen fanden in Auroville sehr viele Bauarbeiten und Straßenabsperrungen statt, um den Straßen eine Decke zu verpassen, was dazu führte, dass man nerviger Weise ständig einen neuen Weg finden musste, um von A nach B zu kommen. Das Geld hierfür bekam Auroville übrigens von der indischen Regierung. Warum? Weil der Hon’ble Prime Minister of India Shri Narendra Modi einen kurzen Besuch abstattete, um zum Anlass von Aurovilles 50. Geburtstag eine kurze Rede zu halten. Ein paar Tage bevor er hier eintraf, sah man auf einmal die ersten Polizisten in Auroville (wo man sonst nie welche sieht). Und am Tag seines Besuches waren es auf einmal Hunderte von Polizisten. Weite Teile Aurovilles waren gesperrt und selbst in den Randbereichen konnte man sich nicht ohne Einschränkungen fortbewegen. So weit die aktuelle Situation hier bei uns vor Ort.

    Der eigentliche Anlass, weshalb ich diesen Beitrag verfasse, ist, dass ich ein bisschen darüber berichten möchte, was in Auroville in den letzten 50 Jahren schon alles passiert ist und realisiert wurde. Und jetzt nach 6 Monaten Aufenthalt in Auroville hoffe ich, dass ich bereits einen ausreichenden Überblick über diesen Ort erlangt habe, um darüber wenigstens etwas schreiben zu können.

    Die Gründung

    Vor ziemlich genau 50 Jahren, nämlich am 28.2.1968 wurde Auroville gegründet. Die Ideen, auf denen Auroville basiert, wurden von Sri Aurobindo formuliert und von Mirra Alfassa, „der Mutter“, durch die Gründung Aurovilles versucht zu realisieren. Auroville soll ein Ort der „human unity – in diversity“ und des „unending education“ sein und „integraler Yoga“ ist ein geeigneter Weg dafür. Natürlich braucht so etwas mehrere Generationen und noch heute „experimentiert“ man in Auroville. Zu aller erst musste das Land wieder aufgeforstet und der Boden vor weiteren Degradationen geschützt werden. In den folgenden Bildern sieht man die beeindruckenden Erfolge:

    Auch heutzutage ist „sustainable living“ noch wichtig in Auroville (wobei die Wiederaufforstung eher wegen der Überlebensnotwendigkeit als aufgrund eines großen Umweltbewusstseins erfolgte), besonders bei der Ressource Wasser. Ebenso wird Abfallmanagement betrieben und alle Farmen, die zu Auroville gehören, sind organisch. Doch Auroville ist deshalb noch lange kein Ökodorf. So gehören Motorräder hier genauso zum Straßenbild wie überall sonst in Indien. Und auch wenn man in vielen Bereichen schon recht fortschrittlich ist, so gibt es immer noch Potential zur Verbesserung.

    Ein Aspekt, um die human unity zu realisieren, ist, dass kein Land und kein Gebäude einer einzelnen Privatperson gehört. Aurovillianer können für sich zwar Häuser von ihrem eigenen Geld bauen, doch die Eigentumsrechte hat Auroville. Aber noch besitzt Auroville nicht das komplette vorgsehene Land, denn einerseits liegen Dörfer in dem Gebiet und andererseits sind die Landpreise enorm gestiegen. Vor 50 Jahren wollte keiner ödes Land besitzen, heutzutage sehen die Landbesitzer ihre Chance mit dem begehrten Land Gewinn zu machen, worauf sich Auroville aber nicht einlassen will. Nebenbei bemerkt: Ein Ort, an dem auf einmal aus dem nichts eine Stadt entstehen soll, ist natürlich der perfekte Spielplatz für Architekten. Vorgaben gibt es kaum welche, was zu vielen beeindruckenden Gebäuden geführt hat. Oft designen die Aurovillianer ihre Häuser selbst mit.

    Wie sieht es denn mit Geld aus? Alle Aurovillianer müssen einen gewissen jährlichen Beitrag bezahlen, bekommen dafür dann aber auch die meisten Aktivitäten kostenlos bzw. günstiger angeboten. Auf Bargeld will man weitesgehend verzichten, stattdessen besitzen alle Aurovillianer einen Account und andere Leute, die länger hier leben so wie wir, eine sogenannte Aurocard (auf die wir immer wieder Geld raufladen müssen). Im Supermarkt PTDC z.B. bezahlt man sogar nur einmal im Monat einen bestimmten Beitrag und kann sich dann den gesamten Monat über nehmen, was man braucht, ohne ständig zahlen zu müssen. Der Gedanke dahinter ist, dass man sich wirklich nur nimmt, was man braucht und nicht ständig auf den Preis guckt. Jedoch erfährt man am Ende des Monats dann, ob man seinen gezahlten Beitrag überschritten hat und muss evtl noch nachzahlen. Wenn man weniger eingekauft hat, als es der Beitrag möglich macht, wird der Rest an Auroville gespendet. Doch völlig ohne Bargeld kommt Auroville nicht aus, es handelt sich nur mal nicht um einen von der Außenwelt isolierten Ort, sondern jeden Tag strömen Touristen nach Auroville und auch die umliegende tamilische Bevölkerung, die in Auroville arbeitet, muss ja irgendwie bezahlt werden.

    Nun muss ich aber noch erwähnen, dass nicht alle Aurovillianer auch hier in Auroville einen bezahlten Job haben bzw. sie dadurch genug verdienen. Viele haben sich zuerst in ihrem Heimatland (oder anderswo) durch ihre Arbeit einen gewissen Geldvorrat angelegt, um nun hier mit nur einem „kleinen“ Job oder sich vollkommen ihrem Hobby widmend leben zu können. Manche gehen (fliegen) auch jedes Jahr für ein paar Monate in ihr Heimatland, um zu arbeiten und etwas Geld zu verdienen. In Auroville soll man nicht um des Geldes wegen arbeiten, sondern weil man Freude daran empfindet, man anderen dadurch hilft und/oder dabei etwas lernt. Diesem Ideal folgen auch viele. Nur lässt es sich nicht immer so ohne Probleme leben. Immer wieder gab es auch Phasen, in denen nur solche Leute Aurovillianer werden konnten, die ausreichend Geld besaßen, was ja nicht gerade nach „human unity“ klingt. Doch das Problem lag (und liegt) darin, dass Auroville nicht ständig neue Häuser und Wohnungen bauen kann (bzw. Aurovillianer für immer Auroville verlassen und somit ihr Haus Auroville übertragen wird), die denjenigen zugewiesen werden, die sich kein eigenes Haus bauen können.

    Ob Auroville wirklich so aussehen wird in der Zukunft mit 50.000 Bewohnern ist fragwürdig – doch die Galaxieform ist der bisherige Plan

    Wer sind denn eigentlich diese Aurovillianer? Zur Zeit gibt es ca. 2700 Aurovillianer aus 50 verschiedenen Nationen, wobei die Inder, Franzosen und Deutschen die größten Gruppen darstellen. Eines Tages soll Auroville 50.000 Bewohner von überall auf der Welt beherbergen. Doch zu all diesen Aurovillianern kommen natürlich noch ein paar Hundert Freiwillige und Gäste (übers Jahr summiert Tausende), sowie Newcomer (so wird man die paar Jahre genannt, bevor man den Prozess der indischen Bürokratie durchgemacht hat und endlich ein spezielles Visum für einen längeren Aufenthalt mit Arbeitserlaubnis in Auroville bekommt). Außerdem werden viele der 35.000 Bewohner der umliegenden Dörfer (meist durch Arbeit innerhalb von Auroville) in das alltägliche Leben in Auroville eingebunden. Somit ist Auroville keine „gated community“. Dennoch ist Auroville weder Indien noch westliche Welt. Es ist ein spezieller Ort, den man nur dann am besten erfahren kann, wenn man in Auroville für eine längere Zeit lebt.

    Wie sieht es mit der „Politik“ aus? Bei der Gründung gehörte Auroville dem Ashram und war somit nicht staatlich. Doch nach „Mutters“ Tod kam es in den 70ern zu Schwierigkeiten und so griff die indische Regierung ein und erließ 1988 den Auroville Foundation Act. Seit dem gibt es drei Körper, die Auroville „regieren“. Das Governing Board besteht aus von der indischen Regierung ernannten ehemaligen nationalen Politikern und wird durch einen Secretary in Auroville vertreten, dessen Aufgabe es ist, zu überwachen, dass nichts gegen die indischen Gesetze verstößt. Der International Advisory Council soll das Governing Board in manchen Themen beraten. Zur Residents Assembly gehören alle volljährigen Aurovillianer, die durch das Working Committee vertreten werden. Letzteres arbeitet mit dem Secretary zusammen. Solche Gremien findet man in Auroville recht viele. So kommen in der Farm Group die Farmer Aurovilles zusammen, um sich über bestimmte Themen zu beraten und Entschlüsse zu fassen. Meist jedoch müssten diese dann erst über das Working Committee vom Secretary zugelassen werden. Doch nicht immer sind diese Gremien funktional (was dazu führt, dass jeder tut, was er will) und gewisse Disskusionen werden in ihnen schon seit Jahren ausgetragen. So hat zum Beispiel „die Mutter“ gesagt, dass nicht alle Straßen und Wege geteert/gepflastert werden sollen. Doch es ist nicht zu leugnen, dass gepflasterte Straßen während des Monsun deutlich angenehmer sind. Zu einer Einigung ist man bis heute nicht gekommen, aber Auroville ist ja auch ständig im Wandel.

    Ganz anderes Thema: Schule. Prinzipiell besteht keine Schulpflicht in Auroville, dennoch werden die meisten Kinder zur (für Aurovillianer kostenlosen) Schule geschickt. Noten bekommen die Schüler keine, außer in den letzten zwei Jahren, wenn sie sich dafür entschieden haben, einen internationalen Schulabschluss abzulegen. Natürlich sind auch die Schulen auf die Prinzipien Sri Aurobindos und „der Mutter“ abgestimmt. Wie allgemein in Auroville herrscht hier die Stimmung, dass man durch Selbstfindung seine eigenen Potentiale besser entfalten kann und das auch der Gemeinschaft zu Gute kommt. Orte zum Lernen gibt es hier viele – auch für Erwachsene, schließlich kann man im Leben ja nie auslernen. Doch ob diese Vielfalt schon als „unending education“ bezeichnet werden kann, ist nochmal ein anderes Thema.

    Zum Schluss: Ist Auroville (bisher) ein Erfolg? Schwierige Frage, die wohl jeder für sich selbst beantworten sollte. Auroville basiert auf einer Charta mit vier Punkten und recht allgemein gehaltenen Aussagen. Außerdem ist Auroville einfach nur ein kleines Dorf irgendwo auf dieser Welt. Doch untätig sind die Bewohner hier nicht – sie bleiben am „experimentieren“.

    Bildquellen: www.auroville.org


  3. Oh Boy – Filmkritik

    Oktober 22, 2015 by Lukas

    Am Dienstag, den 21. Oktober, war es wieder so weit. Ein deutscher Film wurde im Kino der Townhall (Aurovilles Rathaus) ausgestrahlt. Diesmal wurde der Film „Oh Boy“ aus dem Jahre 2012 im rappelvollen Kino an die Leinwand projiziert. Hier eine kurze Filmkritik:

     

    Die Wohnung steht voller Umzugskartons, die Bankkarte wird am Automaten ohne jede Vorwarnung eingezogen und Kaffee lässt sich nirgends finden. Wenn diese unglücklichen Umstände alle auf ein und denselben Tag fallen, sollte schnell klar sein, dass man vom Glück nicht verfolgt wird. Was einem bleibt sind zwei Dinge: entweder die Probleme eines nach dem anderen konstruktiv angehen oder sich auf einen ganztägigen Spaziergang durch die Berliner Großstadt begeben.

    Der Protagonist Nico Fischer versucht sich zwar in Lösungsansätzen für seine Vielfalt und Vielzahl an Problemen, am Ende landet er jedoch trotzdem auf einem schier endlosen Pfad vorbei an den verschiedensten und urkomischen Ecken der Stadt. Der Weg von der neuen eigenen Altbauwohnung, über die Medizinisch-psychologische Untersuchung (kurz: MPU; kurz und gebräuchlich: Idiotentest) beim städtischen Psychologen und das Filmset eines Kriegsdramas, endet schließlich vor der Notaufnahme in einem Krankenhaus. Allein die Abfolge der Stationen lässt vermuten, dass sich die Konflikte im und um den Ex-Studenten Nico nicht in Luft aufgelöst haben. Schlimmer noch, das gesperrte Bankkonto endet in einem unausweichlichen Kontaktabbruch zum erfolgreichen Vater, das Vertragen zwischen dem früherem Bully und Ex-Mobbingopfer kulminiert im totalen Zerwürfnis und das Verlangen nach Kaffee muss mit Schnaps und Vodka gestillt werden.

    Die Suche nach dem flüssigen braunen Gold zieht sich durch den gesamten Film und eignet sich bestens um die Hass- und gleichzeitige Liebeserklärung an die Spreestadt zu skizzieren. Es lassen sich alternative Theaterbühnen sowie Kiffer und Omas unter einem Dach finden, doch einen 0815-Wachmacher gibt es in dieser sich wandelnden Stadt nicht mehr. Die einzelnen Begegnungen mit dem verzweifelten und fußballverrückten Nachbarn oder mit den betrunkenen Jugendlichen sind alle sketchhaft, kurz hat man das Gefühl hier wurden nur Kurzfilme mit tollen Dialogen in burlesken Situationen aneinandergereiht. Doch dann entdeckt der Zuschauer, dass alle Begegnungen den Studienabbrecher mit fettigen Haaren zu seiner Selbstfindung anregen. Was möchte du mal werden: Mainstreamkonsument? Alternativer Theaterregisseur? Ein Bühnenkünstler, der für seinen Erfolg alles annimmt, oder der Schauspieler, der sich selbst und seinen Idealen treu bleibt und deshalb in die Bedeutungslosigkeit abdriftet? All diese Leute lernt Nico an einem Tag kennen, er selbst ist zurückhaltend und lässt keine Emotionen nach außen zu, die Leute, die auf ihn einen bleibenden Eindruck hinterlassen, sind laute, kunterbunte oder grandios gescheiterte Persönlichkeiten, die er in dieser Frequenz in keiner anderen Stadt hätte kennenlernen können.

    Am Ende entdeckt der Zuschauer einen nachdenklichen Endzwanziger in einem Krankenhaus, der sich über das Leben Gedanken macht. War das Leben lebenswert, wenn man am Ende alleine und ohne erkennbaren Einfluss auf seine Umwelt verstirbt? Eine Antwort auf diese Frage gibt der Regisseur nicht, denn er lässt den Film hier enden. Ohne Antwort, ohne krönenden Abschluss und ohne katastrophale Tragödie.

    Ach Junge, nach Hollywood wird es dieser Film nicht schaffen, soll er aber auch nicht, denn die schwarz-weiße Tragikomödie, welche mit Jazzmusik unterlegt ist, funktioniert am besten in seiner Herkunftssprache. Das müssen auch viele Zuschauer in der Townhall in Auroville feststellen, denn von denen, die den Dialogen unten auf Englisch mitlesen mussten, kommt meist das Feedback: „Ich habe nicht verstanden, um was es ging.“ Voller Begeisterung und Elan versucht man es zu erklären, um am Ende selbst festzustellen, dass der Film gar nicht einem besonderen Handlungsstrang folgt, sondern “nur“ alltägliche, jedoch trotzdem erwähnenswerte zwischenmenschliche Begegnungen festgehalten werden. Doch diese humanen Aufeinandertreffen im urbanen Schmelztiegel Berlin machen den Film zu dem, was er heute ist. Ein Film den man gesehen haben muss, wenn man auch ohne Action, blitzende Bildeffekte und Skandalstory kann.

     

     

    „Oh Boy“ ist das Spielfilmdebüt des deutschen Drehbuchautors und Regisseurs Jan-Ole Gerster. Der Film wurde mehrfach ausgezeichnet und erhielt 2013 den deutschen Filmpreis in sechs Kategorien unter anderem für den besten Spielfilm. Der Student Nico Fischer wird von Tom Schilling dargestellt, auch andere namenhafte deutsche Schauspieler wie Justus von Dohnányi, Ulrich Noethen und Martin Brambach sind Teil der Besetzung.

     

    Trailer:           https://www.youtube.com/watch?v=OHrZtRt5EKc

    Website:         http://www.ohboy.x-verleih.de


  4. Vom Instrumentenbauer zum Schreinergehilfen?

    Dezember 5, 2013 by Leo

    Eigentlich hat sich alles geändert. Ich wohne nicht mehr im Bamboocenter, arbeite jetzt aber dort. Der Projektwechsel war schon seit einem Monat geplant, doch ich sollte erst zum Dezember die Arbeit wechseln dürfen. Zu viel war noch zu tun bei der Exarbeitsstelle Svaram: Die seit zwei Jahren geplante Website sollte fertiggestellt werden, Feinschliff an den Texten, meiner Ansicht nach viel zu lang um Internettauglich zu sein, irgendwo fehlt auch noch ein Bild – keiner weiß wo. Chaos. Die Blätter voll handschriftlicher Änderungen stapeln sich neben meinen Rechner. Kein Licht zu sehen im dunklen Büro, und dabei erinner ich mich daran, was ich mir vorgesetzt habe für das Jahr: möglichst wenig Computerarbeit, dass bringt dich nämlich nicht weiter. Das klappt ja super!

    Die Werkstatt ist ein in sich geschlossener Kosmos. Jeder weiß was er tun muss und was er tut. Fast jeden Tag stürmen Reisegruppen in den Showroom und kaufen das halbe Lager leer. Die Nachfrage ist groß und der Druck auf die Arbeiter auch.

    Montag morgen halb neun, Morning Circle. Aufgabenverteilung und Kontrolle des Fortschritts. Danach folgt dann etwas wie “a lot of work this week”. “this week” ist gut. Ich habe feststellen müssen, dass bei dem engen Zeitplan kein Platz für unerfahrene Freiwillige bleibt. Deswegen sitzen die auch alle im Büro, in der Produktion ist niemand.
    “Ooohmm” verschallt es dann im Kreis. Energie soll es bringen und einen. Es ist tatsächlich ein sehr interessantes Phänomen wie die Stimmen verschmelzen und jeder intuitiv weiß, wann er aufhören muss zu singen. Das stelle ich wöchentlich fest wenn ich für eine Stunde teil das Auroviller Ohmchoires bin.
    Im Svaram Kontext hat es aber etwas zynisches, nicht alle singen, die Stimmung ist ein wenig bedrückend.

    So geht das nicht weiter, dachte ich mir und habe dann vor etwa einem Monat meinen Unmut publik gemacht und mit Aurelio und Ulrike, den Leitern von Svaram, gesprochen. Verständnis haben sie gehabt und mir zugesprochen, dass ich zum ersten Dezember das Projekt wechseln kann.
    Nun habe ich schon zwei Tage in der Werkstatt vom Bamboo Research Center hinter mir. Ich werde grade in die Produktion von sehr gut aus sehenden, dreibeinigen Hockern eingewiesen und bin fleißig am leimen, schleifen und hämmern. Man könnte dies auch unter Schreinern zusammenfassen. In den nächsten neun Monaten werde ich bestimmt eine Menge lernen. Und das ist es auch was ich bei Svaram so vermisst habe: Etwas zu lernen! 13 Jahre andauerende Informationsaufnahme, und da ist man gerade mal drei Monate weg und schon vermisst man Edukation. Das Wort habe ich grad eingedeuscht.

    Jetzt will ich nur noch was über mein neues Zuhause erzählen: Groß ist es, und kuppelartig – Den Platzzuwachs genieße ich sehr. Luftig ist es auch und abgelegen. Celebration heißt es. Eine große moskitodichte Küche gibt es auch. Insgesamt ein sehr schöner Fleck, wo ich bestimmt eine Weile bleiben werde. Wobei, ins Dorf will ich auch noch mal ziehen…
    Man hat hier einfach zu viele Möglichkeiten, manchmal mehr als einem lieb sind.
    Letztends war ich bei einem Klavierkonzert. Schumann und Chopin gespielt von einem italienichen Majestro, in einer kleinen völlig überfüllten Turnhalle mit lauter weiß gekleideten Menschen. Ganze drei Mal hat sich der Majestro durch die Menge gedrängelt um prompt unter tosendem Applaus wieder einzumarschieren. Beim dritten mal habe ich das ein oder andere Schmunzeln im Publikum entdecken können. Die haben sich warscheinlich auch gedacht: Son richtiger Majestro braucht das bestimmt. Einfach weiter klatschen, bis er mit dem Maß der Anerkennung zufrieden ist.

    Ach, Auroville ist schon ein lustiger Ort.