(Leben in Discipline)
Was war mein größter Irrtum ante-weltwärts über das Leben in Indien? Hatte mein unschuldiges, unbescholtenes und hinterwäldlerisches Selbst nicht mit dem Müll, den Stromausfällen, der Armut, der Wärme, der Sonne, den Kühen, der indischen Mentalität oder dem scharfen Essen gerechnet? Nein, die Vorbereitungsseminare ließen keinen dieser Fakten unerwähnt. Jedoch hatte ich irgendwie die ziemlich abwegige Illusion, dass sich in den dunklen Stunden eine friedliche Stille über das ländliche Indien legen würde. Ähm, ich kann nur sagen: Nein.
Dieser Fakt fiel mir wieder ein, als ich eine übernächtigte Besucherin morgens in der Küche traf, die ihr Jetlag auf Grund von erhöhter Lärmbelastung der Naturklänge nicht ausschlafen konnte. Hoffentlich konnte die bezaubernde Gesellschaft (gerade leben Jasper, Jola und ich in den Kapseln in Discipline), die idyllische Lage (im wuchernden Grün der biologischen Farm), das bunte, erstaunende und schöne Drumherum und unser Zuhause unseren kritischen Gast ausreichend entschädigen.
Vor allem die Küche ist als der WG-Verkehrsknotenpunkt eine Sehenswürdigkeit an sich. Als Inventar befinden sich ein gelber Küchentisch mit ausgeblichenem rot-orangen Muster inklusive Bank und Hocker, eine auf dem bodenliegende sofaähnliche Ansammlung von Polstern, als Lebensmittelaufbewahrungsorte Schrank, Regal und Kühlschrank (in absteigender Ameisensicherheit geordnet) und neben den üblichen Kücheneinrichtungen (Herd & Spüle) noch eine kleine Bibliothek. Für eine regelmäßige Körperwässerung steht das Bad eine Tür weiter zur Verfügung und bezaubert durch eine geräumige Dusche, die aber aktuell auf Grund von limitierten Dusch-Armaturen nicht in voller Gänze genossen werden kann. In diese beiden heimeligen und vor allem kühlen Höhlen gelangt man von der sogenannten „Terrasse“, die mit einem riesigen gelben Tisch mit aufgemalten Spielfeldern ausgestattet ist, dessen Nutzung selten ist und, wenn vorhanden, eher einer Liegefläche gleicht.
Für die oben genannten feinen Schönheiten ist der gemeine Tourist aber meist eher blind. Die besuchenden Familien und Freunde steuern meist zielgerichtet auf die Hauptattraktion zu: die Komposttoilette! *Hust*
Mehr als störend werden dabei die im Weg stehenden Kapseln, aus Naturmaterialien gebaute Stelzenhäuser (Nein, keine Baumhäuser!), wahrgenommen. Diese drei unterschiedlich großen und luxuriösen Behausungen wurden dieses Jahr durchgängig von drei oder vier Weltwärtslern bewohnt. Seit mehr als vier Monaten genieße ich meinen Blick auf Indien von der obersten Treppenstufe der größten Kapsel. Bin Gast bei den vorbeihuschenden Tieren. Wische Sägemehl von meinen Besitztümern. Schlafe mit Grillenzirpen ein, um von Tempelmusik und Streifenhörnchen geweckt zu werden.