Ein Großteil der Informationen des folgenden Beitrages sind durch mehr als drei Kaffefilter gelaufen. 😉
Auf meinem Laptop habe ich schon lange vor der Abreise einen Countdown gehabt, der die Tage bis zum Abflug nach Chennai heruntergezählt hat. Denselben Countdown habe ich immer noch an derselben Stelle, nur dass dieser nun die Tage zählt die seit dem Flug vergangen sind. Hundert Tage sind es jetzt. Hundert Tage Indien. Hundert Tage in einer komplett anderen Kultur, als ich sie in Deutschland gewohnt war. Das Klima, die Gerüche, die Menschen. Das Dorf, in dem ich lebe, und natürlich die Kühe auf den Straßen und wie sie mich mit ihren leuchtenden Augen anstarren, sobald die Dämmerung angebrochen ist und ich sie mit meiner Fahrradlampe anleuchte, wenn ich die Straße entlangfahre.
Die ersten dieser hundert Tage waren für mich von Überforderung geprägt. Ich habe realisiert, wie wenig ich mich vor der Abreise wirklich damit auseinandergesetzt habe, dass ich ein Jahr in einem Land leben werde das so anders ist als das was ich gewohnt bin. Ich glaube ich hatte Angst, mich darauf mental vorzubereiten, aber irgendwie hat es sich trotzdem so angefühlt als sei es nicht die falsche Entscheidung gewesen, an dem Projekt teilzunehmen. Ich habe also alles auf mich zukommen lassen, habe mich bewusst einfach so hineinwerfen lassen, ins Flugzeug. Während des Fluges hat es sich so angefühlt, als würde ich zwischen zwei Welt stehen, eine vertraute und eine von der mir nur ihre Umrisse bekannt sind. Aus Erzählungen von Freunden und Verwandten. Und natürlich durch die gute, mühevolle Vorbereitung der zwei jeweils einwöchigen Seminare, an der wir als Gruppe in Deutschland vorab teilgenommen haben. Dieses ‚zwischen zwei Welten stehen‘ verlieh mir während dem gesamten Flug ein ganz mulmiges Gefühl im Bauch. Und doch war da die Vorfreude auf das Abenteuer ganz klar zu spüren. Man sah es unserer Gruppe an, bis die Müdigkeit bei manchen die Vorfreude überstieg. Eine Stewardess erzählte einer Mitfreiwilligen und mir wie sie nach ihrem absolvierten Abitur alleine nach Indien gereist ist und hat sich damit bei uns gehörig Respekt verschafft.
Kurz darauf ist unser Flugzeug erfolgreich gelandet. Sobald ich das Flugzeug verlassen hatte, kam mir eine Welle an Hitze und Luftfeuchtigkeit entgegen, sodass ich erstmal einen Schluck Wasser brauchte. Das Herzklopfen und Hoffen auf keine Komplikationen bei der Visa-Kontrolle, das Warten auf die Koffer, die ersten Schritte außerhalb des klimatisierten Flughafengebäudes auf der Suche nach dem Taxifahrer mitten in der Nacht. Der erste Kulturschock, durch die ewig lange Fahrt auf dem Highway von Chennai hinaus ins Ländliche, Richtung Auroville.
All das waren zu viele neue Eindrücke auf einmal, sodass ich ein oder zwei Tage nach Ankunft in Auroville einfach aus dem nichts angefangen habe zu weinen und ich gar nicht wusste, wieso. Der Jetlag hielt bei mir etwa drei Tage an. In der ersten Woche waren wir im Center Guest House untergebracht und wurden von unseren Mentoren mit den ausgeliehenen Fahrrädern durch Auroville und Umgebung herumgeführt.
In den darauffolgenden ersten zwei Arbeitswochen war meine Projektleiterin, Ok, noch arbeitsbedingt in Italien und Valerie, meine Kollegin und ehemalige weltwärts-Freiwillige, war ebenfalls verhindert. Meine Mitfreiwillige und WG-Mitbewohnerin, Tabea, und ich wurden am allerersten Arbeitstag von einer Kollegin in Empfang genommen. Unser Arbeitsalltag in der ersten Woche war rückblickend noch sehr entspannt.
Am Montag der darauffolgenden Woche haben Tabea und ich dann Ok kennengelernt, wir sind direkt ins ‚Monday Meeting‘ gestartet. Da wurde ich erstmal mit Informationen überhäuft und mir wurde auch gleich die Verantwortung für den Instagram-Account zugeteilt, der eigentlich an sich schon fast einen full-time Job ausfüllen kann. Besagte Meetings finden einmal die Woche statt. Anstrengend sind sie oft aufgrund der Sprachbarriere, so kam es hin,- und wieder zu Kommunikationsproblemen. Von Anfang an gab es Schwierigkeiten in der Kommunikation mit meiner Projektleiterin.
Mein Arbeitsalltag startet damit, dass ich mich um ca. 8:50 Uhr auf mein Fahrradsattel begebe und zum Studio düse. Kurz vor 9 Uhr bin ich dann i.d.R. angekommen. Am Montag starten wir um 9 Uhr mit dem besagten ‚Monday Meeting‘. Es wird erstmal besprochen, was in der kommenden Woche ansteht. Wenn Workshops geplant sind, die im Studio oder auch in einer Schule stattfinden, werden offenstehende Fragen geklärt.
Zu Beginn des Meetings wird erstmals eine Liste der verkauften Produkte, der vorherigen Woche, aus dem Shop im Visitor Center erstellt. Daraus ergibt sich folgend eine Liste der Produkte, die in der kommenden Woche nachproduziert werden müssen. Diese nachproduzierten Produkte kommen entweder schon am Mittwochnachmittag in den Shop oder werden am darauffolgenden Montag präsentiert und dann am Mittwoch aufgestockt. Zudem muss sich jeder jede Woche ein neues Produkt ausdenken und dazu ein Sample oder zumindest eine Skizze vorbereiten. Je nachdem wie viel in der kommenden Woche ansteht, kann das Meeting eine halbe Stunde oder zweieinhalb Stunden dauern. Nach dem Meeting startet die eigentliche Arbeit. Diese Woche Montag habe ich zum Beispiel direkt damit angefangen die ersten sechs Schlüsselanhänger aus Blechdosenöffnern herzustellen.
Von 12 Uhr bis 14 Uhr habe ich anschließend Mittagspause. Manchmal fahre ich aber auch schon eine halbe Stunde früher zur Arbeit und verlasse stattdessen das Studio früher. Mittags zum Lunch treffen wir dann die anderen Freiwilligen in der Solar Kitchen (die Kantine Aurovills). Oftmals sitzen auch Aurovillaner von YouthLink mit an unserem Tisch. Der Austausch über den Arbeitsalltag der anderen ist immer interessant und unterhaltsam.
Von 14 Uhr bis 16 Uhr arbeiten i.d.R. alle an ihren Produkten für den Shop. Danach bleibt noch eine Stunde die ich zum Aufräumen im Storageroom des Studios oder andersartig (z. Bsp. für den Instagram-Account) nutzte.
Bezüglich der Gestaltung meiner Freizeit, lässt sich sagen das sich diese sehr abwechslungsreich in meinen Alltag integriert. Ranjana, eine Freundin und Arbeitskollegin von mir, hat mich einmal zu der sogenannten ‚Playhood‘ mitgenommen. Dabei geht es darum Menschen Raum zu geben, wieder Spaß am Spielen zu haben ohne Leistungsdruck zu empfinden. Durch diese Erfahrung habe ich wieder meine Freude am Sport entdeckt und betätige mich seitdem wieder häufiger physisch. Außerdem habe ich einige Male an einem Mixed Marshall Arts Kurs (MMA) teilgenommen. Das ist der weiterführende Kurs des Selbstverteidigungskurses, den ich zu Beginn mit einigen anderen meiner Freiwilligengruppe gemacht habe. Der Kurs bietet zweimal pro Woche Ringen und einmal Kickboxen an. Darüber hinaus habe ich aus Deutschland meinen Badmintonschläger mitgenommen, worüber ich sehr froh bin. Vorort gibt es nämlich eine Gruppe von Leuten, die regelmäßig Badminton am Certitude Sports Ground spielen und denen ich unbedingt noch beitreten möchte. Ansonsten waren ein Mitfreiwilliger und ich ein paar Mal früh morgens zusammenlaufen. Das hat (für mich) überraschend viel Spaß gemacht. Denn ich habe Laufen noch nie richtig gemocht, hatte aber auf einmal einen sehr starken Drang dazu und bin seitdem Frühaufsteherin.
Neben dem Sport gehe ich zusätzlich seit einem Monat am Samstagnachmittag zu einer Open Art Class, die mir seit Beginn sehr am Herzen liegt und die ich definitiv weiterhin besuchen werde. Davon abgesehen gehe ich auch gerne mit Freunden nach Pondy und entdecke neue Ecken der Stadt.
Die Akzeptanz, dass das Jahr bisher anders verlaufen ist, als ich es mir vorgestellt hatte, ist momentan wohlmöglich meine größte Herausforderung. Das bezieht sich sowohl auf meine Arbeit im Studio, als auch auf meine Freizeit. Meine Ziele für das Jahr, die ich mir grob im Kopf zusammengereimt habe musste ich deshalb anders bzw. weniger konkret auslegen. Allerdings habe ich auch erkannt, dass ich durch die Arbeit im Studio noch mehr lerne mit meinen Mitmenschen als Kollektiv an Projekten mitzuwirken. Die Arbeit bringt mich auch dazu, zu lernen besser und genauer zu kommunizieren. Außerdem lerne ich mit Anmerkungen konstruktiv umzugehen, um meine Arbeitsweisen zu optimieren. Ich lerne auch Situation distanziert zu betrachten und immer wieder die Perspektive zu wechseln, bevor ich für mich selbst urteile und Entscheidungen treffe.
Und doch bin ich für diese wie so viele weitere Erfahrungen dankbar, weil im Endeffekt bringt es mich ja nur weiter. Der Fakt, dass ich, während ich daran wachse, so unglaublich tolle Menschen an meiner Seite habe, die mir dabei helfen, der macht mich jeden Tag aufs neue glücklich. Die vielen kleinen Momente in denen ich mir keine Sorgen mache, und mein Leben genieße machen mich glücklich. Und dass ich die Erinnerungen mit den Menschen teilen darf, die ich liebgewonnen habe. Denn wenn es mir dann mal nicht so gut geht, kann ich mich daran zurück erinnen.
Eine Momentaufnahme:
Schon seit einigen Tagen hat der Monsun angefangen und die Leute die sich draußen aufhalten, fahren im Regenponcho, auf ihren Motorädern, in Flipflops durch die nassen Straßen. Auch ich trage eine Regenjacke während ich auf meinem Fahrrad sitze und vom MMA-Kurs im Dehashakti Gym auf dem Heimweg bin. Ein paar Kühe stehen am Straßenrand und suchen zwischen lauter Plastikmüll nach etwas essbarem. Dann kommt das Ortsschild mit der Aufschrift ‚Edayanchavadi‘, an der vorletzten Straßenkurve staut sich der Verkehr. Kühe, ein paar Autos und viele Bikes sammeln sich an. Jeder will so schnell es geht weiter, während die Kühe selenruhig auf der Straße stehen bleiben. Und da hat sich der Stau auch schon aufgelöst – gleich bin ich zuhause – unter der Gruppe von Bikes ist Mirant. Er sieht für einen Augenblick verwirrt aus, dann sind wir auch schon fast aneinander vorbeigefahren und während ich ein wenig angefangen habe zu lächeln, hat er mich erkannt und ist im selben Moment auch schon wieder an mir vorbeigezogen. Zuhause angekommen packe ich meinen neuen, mit Einkäufen vollgepackten, Rucksack aus und wasche mir den Schlamm und Schweiß vom Körper. Ich schreibe Mirant: “Did you recognize me on the street with my helmet, headlamp, rain jacket and black rucksack with at least 8 straps?”– “I’ve never felt more German”. Rosa kommt aus ihrem Zimmer und wir fangen an uns auszutauschen wie unser Tag war, Tabea kommt dazu und wir sitzen zusammen in meinem Zimmer, dass kollektiv als Wohnzimmer getauft wurde, essen gemeinsam zu Abend, quatschen über das was uns auf dem Herzen liegt und wie schnell die Zeit schon wieder rum ist. Schon hundert Tage Indien. Und dabei fühlt es sich gerade Mal so an, als hätte ich nur einmal kurz geblinzelt.