Jetzt bin ich schon fast 14 Tage in Auroville und habe von vielen neuen Eindrücken zu berichten. Zunächst mal lief am Sonntag, den 25., als wir in Chennai am Flughafen ankamen, alles reibungslos. Wir wurden von einem Bus am Flughafen abgeholt und direkt zum Guesthouse nach Auroville reingefahren. Für mich waren die Eindrücke von den Straßen und der Umgebung in Indien gar nicht mehr so fremd, weil ich 2010 Indien ja schon einmal besucht habe. Außerdem ist meines Erachtens nach der Ghanaische Verkehr sogar noch schlimmer! Trotzdem, das war ein ganz schöner Trubel und auch der Linksverkehr ist gewöhnungsbedürftig. Die zwei wichtigsten Verkehrsregeln in Indien: Der Größte hat Vorfahrt und Hupen heißt: ich komme und werde keinen Platz machen! Herzlich Willkommen!
Auroville und Indien
In der ersten Woche haben wir 17 Freiwilligen noch nicht gearbeitet, sondern durften gemeinsam mit unseren 5 Paten (Karin, Jürgen, Bärbel, Gabi und Andy – alles mehr oder weniger alteingesessene Aurovillianer) Auroville entdecken und alle Projekte besuchen, in denen Freiwillige von uns arbeiten. Außerdem gab es einiges an administrativem Kram zu erledigen, denn es reicht nicht ein Visum in Deutschland zu beantragen, für welches man 6 Einladungsschreiben, die Geburtsurkunde, die Pässe der Eltern, Bürgschaften und Sonstiges braucht und für das man 3 Mal zum Konsulat gehen muss – nein, hier in Indien muss man sich dann auch nochmal registrieren und mindestens 2 Mal zum Regional Registration Office nach Pondycherry (ca. 30 min mit dem Auto) fahren. Außerdem muss man sich in Auroville registrieren und und und… bald ist das aber auch geschafft!
In dieser ersten Woche hat mich vor allem der Unterschied zwischen dem Leben in Auroville und dem indischen Alltag sehr beschäftigt. In Auroville fehlt ungefähr alles, was dem Westler das Leben in Indien schwer machen könnte: verunreinigtes Wasser, Müll, Lärm und Menschenmassen. Anstatt dessen gibt es überall Wasserfilter und Orte an denen man völlig umsonst reines Trinkwasser nehmen kann. Auch allgemein ist die Hygiene sehr gut und bisher ist von dem Essen hier noch niemand aus der Gruppe wirklich krank geworden. Müll sieht man auf den Straßen in Auroville kaum, ausgeprägtes Umweltbewusstsein herrscht unter den meisten Aurovillianern vor. Außerdem ist alles sehr sehr grün und die verschiedenen Siedlungen, die hier Communities genannt werden, sowie die einzelnen Häuser, stehen alle sehr weit auseinander. Alles das, was aber den Westler begeistern könnte, gibt es auch in Auroville: eine vielfältige Flora und Fauna, exotische Früchte, leckeres indisches Essen zu günstigen Preisen und westliches Essen (Pizza, Croissants und Co) zu fast ebenso günstigen Preisen…alles in allem ist Auroville also wirklich ein Paradies auf Erden. Andererseits sehe ich diese Unterschiede zu Indien auch als sehr kritisch an, insbesondere, wenn ich erlebe, dass Menschen, die über 10 Jahre hier sind, immer noch kein Tamil sprechen können. Auroville grenzt sich sehr stark ab und macht vieles nur seinen „Residents“ zugänglich und wer Resident werden kann entscheidet ein bestimmtes Komitee. Unter anderem Finanzen spielen dabei eine große Rolle. Nur bestimmte Leute können eine so genannte Aurocard bekommen, die in Auroville-Läden das einzige Zahlungsmittel ist und das Matrimandir dürfen nur Aurovillianer besuchen wann sie möchten. Alle anderen müssen sich anmelden und dürfen nur zu bestimmten Zeit hinein. Auch einige Projekte drehen sich mehr um sich selbst und suchen wenig Kooperation mit den Dörfern und bei vielen Aurovillianern scheint Selbstverwirklichung ziemlich großgeschrieben zu sein, was doch eine gewisse Selbstgerechtigkeit und Egoismus fördert. Vielleicht finde ich im Laufe der Zeit gute Beispiele dafür und berichte nächstes Mal darüber.
Die Projekte
Unbestreitbar ist bei aller Kritik an dem Projekt Auroville und der Dekadenz einiger Bewohner hier, dass Auroville einen Spirit hat, der tatsächlich breite Wellen schlägt und das Leben der Menschen in der Region nachhaltig verändert. Die Besuche in den Projekten haben mich persönlich sehr berührt. Wir haben in der letzten Woche alle Projekte besucht, in denen dieses Jahr weltwärts-Freiwillige sind: Die Udavi- und die Aikyam-Schule, das Thamarai Healing Center, den Thamarai und den Mohanam Kindergarten, Svaram – ein Projekt in dem Musikinstrumente mit therapeutischem Hintergrund gebaut werden, das Bamboo Research Center, das Produkte und Häuser aus Bambus herstellt, das Solarenergieunternehmen Sunlit Future, Deepam – Zentrum und Schule für behinderte Kinder und Jugendliche, das Sports Ressource Center, zwei ökologische Farms und schließlich mein Projekt, die Auroville Village Action Group. Was mich so fasziniert hat, ist wie die Projektleiter über die Projekte gesprochen haben. Die meisten der Leiter sind Inder und ich war wirklich begeistert von den Ansätzen, die sie vertreten haben und auch ihrem Stolz darüber, etwas in der eigenen Gesellschaft nachhaltig zu verändern. Deepam zum Beispiel hat als Zentrum für Behinderte mit enormen gesellschaftlichen Widerständen zu kämpfen, da man sich in Indien eher dafür schämt, ein Kind zu haben, das nicht „normal“ zur Welt gekommen ist und dieses dann eher versteckt anstatt es zu fördern. Aber durch die Arbeit von Deepam werden die Menschen zum Umdenken bewegt und durch gezielte Physiotherapien und OPs können manche Kinder zum Großteil wieder eigenständig in ihrer Bewegungsfähigkeit werden. Auch die Schulen verfolgen fortschrittliche Konzepte, folgen einem integralen Bildungsansatz und arbeiten mit Künstlern zusammen, machen gemeinsame Projekte und entwickeln vielfach eigene Unterrichtskonzepte. Besonders schön finde ich auch, dass in allen Projekten Freiwillige „Experten“ immer herzlich willkommen sind. So oft wurde in den Projekten erzählt: „Da war jemand aus Schweden oder Frankreich oder Spanien oder Russland und der oder die war Musiktherapeut oder Chi Gong-Trainer oder Homöopath oder Biologe und dann hat er oder sie 3 Monate Workshops gemacht oder sein Wissen eingebracht oder weitergegeben und jetzt verfolgen wir das weiter“. Also das finde ich unheimlich schön und solche Freiheiten und solche Offenheit habe ich persönlich in Deutschland auch noch nie erlebt. Jeder der etwas kann und sich einbringen möchte, ist herzlich willkommen.
Auroville Village Action Group
Donnerstag war es dann so weit und wir haben mein Projekt besucht. Mindestens eine Stunde lang saßen wir mit fast 30 Leuten zusammen im Kreis und haben uns etwas über die Aktionen und die Arbeit von AVAG angehört. Hinterher haben die anderen mich beglückwünscht, dass ich in einem solch tollen Projekt bin und ich war auch ziemlich froh hier gelandet zu sein. AVAG wird von Anbu und Morris, einem indischen Ehepaar geleitet. Anbu hat die Organisation präsentiert und konnte viel aus der direkten Sozialarbeit erzählen. AVAG ist zwar an Auroville angebunden, arbeitet aber ausschließlich in den umliegenden Dörfern im Distrikt Villapuram. Dort werden seit 1983 Selbsthilfegruppen, insbesondere Frauengruppen gegründet und betreut. Mittlerweile sind 3500 Frauen in 300 Gruppen und 1000 Männer in 60 Gruppen Teil des Netzwerkes. Am Anfang wurde für AVAG geworben, aber mittlerweile ergreifen die Menschen selbst die Initiative, wenden ich an AVAG und gründen Gruppen. Diese Gruppen werden nicht permanent betreut. Lediglich in der Anfangsphase ist bei den Treffen immer ein Sozialarbeiter dabei, später werden die Gruppen dann immer selbstständiger. Neben gemeinsamem Sparen auf einem Gruppenkonto, von dem dann Mitglieder, die in einer Notsituation sind, Kredite von der Gruppe bekommen können, werden durch gezielte Fragen in den Treffen bestimmte Themen angeregt sowie in Seminaren vertieft. Dabei geht es z.B. um die Rolle von Frauen und Männern, um häusliche Gewalt, sexuelle Aufklärung und Hygiene, um Umweltthemen, um die Erlangung von Fähigkeiten um selbst mit den indischen Behörden klarzukommen, Unterstützungen zu beantragen, das politische Geschehen und das Weltgeschehen zu erklären – eigentlich alles, was die Gruppe und den Einzelnen dazu befähigen kann, selbst ein zufriedenes und eigenständiges Leben zu führen. Die Veränderungen, die in den Dörfern passieren und auch in den Ehen und den Familien, sind wirklich bemerkenswert – wenn man Anbu erzählen hört: Männer, die ihre Frauen nach anfänglicher Ablehnung der Frauengruppe später unterstützen zu den Treffen zu gehen und sich in der Zeit um das Essen kümmern; Frauen die sich die Zeit nehmen 6 Monate bei ihrer Mutter zu wohnen, um von ihrem gewalttätigen Mann Abstand zu gewinnen; Frauen denen von ihrer Dorfgemeinschaft wichtige Aufgaben übertragen werden und vieles mehr.
Ich arbeite jetzt zunächst daran, einen neuen Newsletter zu erstellen, indem insbesondere ein neues Programm von AVAG mit dem Namen SEDAB (Sustainable Enterprises Development in Auroville Bio-region) vorgestellt werden soll. Für die ersten beiden Wochen habe ich einige Termine und besuche Frauen, die an diesem Programm teilnehmen bei ihrer neuen Arbeit. In verschiedenen Trainings wurden und werden Frauen in 8 Bereichen ausgebildet, um sich hinterher selbstständig machen zu können oder als Angestellte übernommen zu werden. Dabei gibt es folgende Bereiche: die Kultivierung von Spirulina, das Herstellen von Produkten aus Bambus, die Herstellung von Naturheilmedizin, die Extraktion von Schlangengift zur Herstellung von Antiserum, das Herstellen so genannter „Earth blocks“ – das sind Ziegelsteine, die aus Erde gepresst werden und nicht gebrannt werden müssen, das Herstellen von Produkten aus Altpapier, das Schneidern umweltfreundlicher Stofftaschen und wiederverwendbarer Binden aus Baumwolle und schließlich eine Ausbildung zur Kosmetikerin mit Fokus auf Naturkosmetik. Bislang war ich bei einem Meeting der Frauengruppe dabei, die die Produkte aus Altpapier herstellt. Bei dem Treffen haben sie sich mit ihrem Ausbildungsunternehmen Well Paper getroffen, da es hier Differenzen gibt, was den Tageslohn betrifft, die momentan unlösbar scheinen. Vielleicht berichte ich beim nächsten Mal noch darüber. Außerdem habe ich zwei Beauty-Salons besucht, die relativ erfolgreich angelaufen sind, wobei es der einen Frau nicht gelingt, ihre Kundinnen von der Naturkosmetik zu überzeugen. Finanziell gesehen erwirtschaften beide 2000 bis 3000 Rupien Gewinn im Monat, also in etwa 25 bis 40 Euro, was als Dazuverdienst zu den Einnahmen des Ehemannes hier in den Dörfern eine ordentliche Summe ist. Ich könnte hierzu noch so viel schreiben und in die Details gehen, aber ich denke, es genügt für dieses Mal 🙂
Noch ein paar Zeilen zu meiner Infrastruktur…also ich wohne als Einzige noch immer im Guesthouse, da ich darauf warte in ein kleines Mini-Häuschen in einer Auroville-Community namens Adventure zu ziehen. Allerdings hat mich in der Wartezeit doch auch schon sehr das Verlangen gepackt, so bald wie möglich in ein indischen Dorf zu ziehen, um mehr von dem Alltag mitzubekommen und Auroville dann eher nur noch hie und da zu besuchen. Da muss ich mal sehen was sich ergibt, wer mit ins Dorf ziehen würde und meinen Platz in Adventure übernehmen könnte. Zur Arbeit fahre ich von hier immer ca. 10 Minuten mit dem Motorrad – das habe ich mir für den Anfang erst mal ausgeliehen – bisher ging alles gut und ich fahre natürlich vorsichtig, zumal ich auch jeden Morgen den Highway überqueren muss. Mittlerweile hat es auch schon einige Male sehr stark geregnet, sodass das Fahren durch Schlamm und Pfützen eine immer größere Herausforderung wird. Toi Toi Toi und bis zum nächsten Mal!