oder „Die drei Kategorien von Reaktionen auf mein Auslandsjahr“
Wenn ich auf die letzten Wochen zurückblicke, habe ich vielen verschiedenen Personen von meinem Vorhaben – über Weltwärts nach Indien zu gehen – erzählt und grob kann ich die Reaktionen in drei Kategorien einteilen:
Kategorie 1: Die Unterstützenden
Typische Aussage: „Wow, wie cool, was für ein Abenteuer. Finde ich voll spannend.“
Danke an euch. Ich bin mir sicher viele von euch, die das hier gerade lesen, fühlen sich hiermit angesprochen. Trotzdem ist es natürlich möglich, dass euch die anderen zwei Reaktionen auch schon durch den Kopf gegangen sind. 😊
Kategorie 2: Die Besorgten
Typische Aussage: „Indien? Oh mein Gott! Wie gefährlich. Und da willst du wirklich hin? Also für mich wäre das nichts.“
Warum warnen mich eigentlich immer die Leute vor einem Land, die selbst noch gar nicht da waren? Woher wissen die Personen eigentlich immer so genau wie gefährlich es ist?
Szenen aus Filmen und Berichte aus Nachrichten halte ich nicht gerade für eine repräsentative Darstellung eines Landes. Vor allem deshalb, da meist nur von Schreckensmeldungen und von besonders krassen Ereignissen berichtet wird, anstatt die Normalitäten und Gegebenheiten des Alltags zu zeigen. Sobald das Schlagwort „Indien“ fällt, erscheinen Bilder in unseren Kopf. Doch woher kommen diese Assoziationen? Sind es diese Bilder, die für uns das ganze Land definieren?
Stereotype?
Ich schreibe bewusst von „wir“, da ich mich von dieser Stereotypenbildung gar nicht ausschließen kann und will. Stereotype sind okay, solange sie nicht unreflektiert bleiben. Denn es ist ja nicht so, dass sie komplett falsch wären, aber sie repräsentieren eben nicht das Gesamte. Nur weil etwas unbekannt oder anders ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es falsch oder schlechter ist. Dieser Gedanke von der Überlegenheit von Deutschland über Indien kann vor allem auf koloniale Strukturen zurückgeführt werden. Dieser koloniale Blick kennzeichnet sich beispielsweise durch die Abwertung des Anderen durch die Konzentration auf und die ständige Wiederholung von Mängeln und Defiziten.
Unsere Beziehung zum Globalen Süden ist maßgeblich durch das Erbe des europäischen Kolonialismus geprägt – sowohl ökonomisch als auch politisch und kulturell. Die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, ihre Geschichte, die sozialen Stellungen, die wir darin einnehmen (bezogen auf Geschlecht, Klasse, Rassismus, Gesundheit etc.), sind für jede Einzelne von uns eine Art Vorgeschichte: Durch sie haben wir gelernt, andere Menschen und Gesellschaften auf eine bestimmte Art wahrzunehmen und ihnen entsprechend zu begegnen. […]
Der europäische Kolonialismus beinhaltete nicht nur die Besetzung bestimmter Gebiete und war dementsprechend nicht mit dem Abzug der Kolonialmächte beendet.
Er ist ein Wissens-, Herrschafts- und Gewaltsystem, das fortlebt und unser Denken und Handeln bewusst oder unbewusst bestimmt.
Koloniale Machtverhältnisse umfassen insbesondere drei Dimensionen:
– Eroberung, Kontrolle und ökonomische Ausbeutung sowie die Zwangsintegration in ein globales kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem
– Die weltweite Verbreitung europäischer Wissenssysteme und die Formung des Bewusstseins der Kolonisierenden und Kolonisierten
– Rassismus (= ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das Weißsein und Westlichsein bevorteilt und Schwarzsein/ „Nicht-Weißsein“ und „Nicht-Westlichsein“ benachteiligt)
Quelle: Broschüre: „Mit kolonialen Grüßen – Berichte von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“
Um nicht immer wieder diese gleichen Stereotype zu reproduzieren und diese kolonialen Strukturen wieder und wieder fest zu fahren, müssen wir uns offen begegnen, indem wir aufeinander zugehen, aus unserer Bequemlichkeitszone heraustreten. Wir brauchen Integration statt Teilung; wir brauchen Völkerverständigung; wir brauchen Austausch, um zu kapieren, dass wir alle eins sind. Überall auf dieser Welt gibt es Probleme und Gefahren, sowie auch Miteinander und Fürsorge. Überall gibt es Menschen, die die gleichen Sorgen und Wünsche haben. Vielleicht ist gerade dies eine der größten Herausforderungen der Menschheit: Das Überwinden der Grenzen zwischen denen, die als „wir“ gelten, und denen, die wir als „die anderen“ sehen.
„Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“
Alexander von Humboldt
Kategorie 3: Die Kritischen
Typische Aussage: „Aha und was bringt das? Was kannst du schon in Indien helfen? Hilf doch lieber hier vor Ort.“
Entwicklungshilfe im Entwicklungsland?
Okay, da muss natürlich erstmal geklärt werden, was hier eigentlich wem hilft. Es ist ein Missverständnis, wenn dieser Freiwilligendienst mit Entwicklungshilfe gleichgesetzt wird: Das ist und soll er gar nicht leisten. Genau wie Entwicklungshilfe, sollte auch das Wort „Entwicklungsland“ vermieden werden, da damit hierarchisierende eurozentrische Vorstellungen von Entwicklung zum Ausdruck kommen, denen diese Länder zu folgen hätten. Alternativ können die Begriffspaare Globaler Süden bzw. Norden benutzt werden, um die unterschiedlichen politische, ökonomische und kulturelle Positionen im globalen Kontext zu benennen.
Entwicklungszusammenarbeit?
Im „weltwärts“-Kontext wird von Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. Das Wort Zusammenarbeit suggeriert den Austausch auf Augenhöhe: Dass ich mich einbringe, aber auch viel lerne, dass ich Neues aufnehme und reflektiere – neue Mentalitäten und Perspektiven verstehe. Also auf eine Ebene von Geben und Nehmen gehe, weg von postkolonialen Strukturen, bei denen sich der globale Norden dem globalen Süden überlegen fühlt.
Entwicklung für Deutschland?
Und was ist, wenn ich den Begriff „Entwicklung“ gar nicht unbedingt auf Indien beziehe, sondern auf Deutschland? Denn bei der Teilnahme an einem Freiwilligendienst darf nicht vergessen werden, dass es nicht nur um das eine Jahr im Ausland geht, sondern auch was danach daraus entsteht. Mit den neuen Perspektiven und Ideen, die ich in Indien dazu gewinne, will ich mich zurück in Deutschland aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels beteiligen.
„Wer will, dass die Welt so bleibt, wie ist ist, der will nicht, dass sie bleibt.“
Erich Fried
Wie dieses Zitat so schön ausdrückt: Es läuft etwas falsch, wenn es keine Veränderung gibt. Entwicklung ist omnipräsent, in jedem Land, überall herrscht zu jederzeit ein Prozess vor. Ich wage also einen Blick nach links und rechts, um – wie man so schön sagt – meinen Horizont zu erweitern, so dass ich irgendwann nicht mehr alles nur durch die deutsche Brille sehe, sondern auch Teile durch die tamilische Brille sehen kann. Und somit immer noch irgendwie deutsch denke, aber eben auch weiter. So komme ich im Optimalfall zurück nach Deutschland voller Inspiration, Motivation und Ideen im Gepäck. Daher lautet mein Motto für meinen Auslandsaufenthalt:
„Ich gehe hin, um zu lernen, nicht um zu lehren.“