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Die Zeit rennt!

7. April 2025 von Cara

Etwas zu spät, aber besser als nie. Mein Halbzeitbreicht vom Ende Februar.

Die letzten drei Monate haben mir eindrücklich gezeigt, wie subjektiv das Vergehen von Zeit sein kann. Sechs Monate liegen hinter mir, sechs weitere vor mir – Halbzeit. Manchmal wünsche ich mir, das Voranschreiten der Zeit verlangsamen zu können, Wochen in Tage zu verwandeln und Stunden in Minuten. Dieses Verlangen ist einerseits ein gutes Zeichen, dass ich mein Leben hier wirklich genieße, andererseits aber auch ein Hinweis darauf, dass ich für die Zeit danach noch nicht bereit bin oder sein möchte. Doch genug von meinen aufkeimenden Zukunftsängsten – widmen wir uns meinem Leben hier in Auroville, Südindien. Was ist seit meinem letzten Update geschehen? Diese Frage stelle ich mir auch immer, wenn ich mich bei Freunden und Familie außerhalb Indiens melde. Die Antwort: Eine ganze Menge – aber wo anfangen? Beim Alltag, der Arbeit oder doch bei den großen Highlights?

Mein Leben ist geprägt von kühlen Nächten und heißen Nachmittagsstunden, von Meetings, Schulbesuchen und Bürozeiten. Mittags in der Solar Kitchen, frisches Obst, täglicher Kaffee im Office, gemeinsames Kochen und genussvolle dunkle Schokolade. Schwimmen gehen, Bouldern, Yoga, gelegentliches Fahrradfahren, seltenes Badminton spielen und kurze Einheiten im Kraftsport. Erste Schritte im Schachspiel, wöchentliche Tamilstunden, Buchvorstellung mit Jazz-Einlagen und monatliche Kunstausstellungen. Zahlreiche Mückenstiche und unerklärliche blaue Flecken. Motorradfahren durch Auroville und Biketouren durch Südindien.

Nun zu einem zentralen Aspekt meiner Zeit hier: meiner beruflichen Tätigkeit. Seit Mitte Januar bin ich in zwei unterschiedliche Projekte involviert, was meinen Arbeitsalltag deutlich vielfältiger, aber auch intensiver gestaltet. Neben der Entwicklung des Water-Curriculums arbeite ich nun auch an der Implementierung des Sea Change Programms in Auroville und in Outreach-Schulen. Dabei lernen Schülerinnen und Schüler im Alter von zehn bis dreizehn Jahren durch interaktive Aktivitäten und Experimente mehr über die Problematik der marinen Plastikverschmutzung. Begleitet werden sie von den drei Sea Change Helden: ‚Smart Student Starfish‘, ‚Talented Teacher Turtle‘ und ‚Sensible Scientist Seahorse‘.

Bei der praktischen Umsetzung dieser Programme stelle ich jedoch fest, dass entgegen unserer anfänglichen Annahme und den Aussagen vieler Lehrkräfte der Unterricht hauptsächlich auf Tamil stattfindet, da die meisten Kinder in diesem Alter noch keine ausreichenden Englischkenntnisse besitzen. Dies hat zur Folge, dass ich regelmäßig zusätzlich zur administrativen Arbeit die Rolle der Beobachterin und Lehrassistentin übernehme, aber bislang keine Unterrichtsstunde selbst geleitet habe. Dies kommt mir tatsächlich gelegen, da ich großen Respekt vor der Aufgabe habe, 20 bis 50 Schülerinnen und Schüler zu unterrichten. Mal schauen, ob ich mich in den kommenden Wochen dazu überwinden kann, diese Aufgabe an einer englischsprachigen Schule zu übernehmen. Dieser neue Aspekt meiner Arbeit gewährt mir einen unglaublich interessanten Einblick darin, wie die WasteLess Programme in der Praxis funktionieren, was mir einen verstärkten Motivator für Büroarbeit und Arbeit im Water-Project gibt. Da meine eigene Schulzeit noch nicht lange zurückliegt, ertappe ich mich oft dabei, das hiesige Bildungssystem mit meinen eigenen Schulerfahrungen zu vergleichen. Meine Arbeitstage sind nun also von thematischem sowie physischem Hin und Her geprägt. Zu den gelegentlichen Ausflügen nach Chennai kommen die mehrmals wöchentlichen Besuche in verschiedenen Schulen hinzu, und die Anzahl der Meetings hat sich verdoppelt. Nach wie vor bin ich mir sicher, dass ich mit WasteLess die richtige Wahl getroffen habe, und fühle mich in meinem wachsenden Team sehr wohl.

In den letzten Monaten habe ich meine ersten Urlaubstage genommen (wobei ich erfreulicherweise anmerken kann, dass meine krankheitsbedingten Fehltage weiterhin bei null liegen). Dies ermöglichte mir einerseits eine eintägige Einführung in die Welt der Nonviolent Communication und andererseits eine atemberaubende, wunderschöne und zugleich anstrengende Motorradtour durch Tamil Nadu mit kurzen Abstechern nach Kerala und Karnataka. Ein Motorrad, zwei Personen, sechs Tage und 1.800 Kilometer. Unsere Reiseroute führte uns von Auroville nach Coimbatore und weiter in die Höhen von Valparai. Von dort besuchten wir die Athirappilly-Wasserfälle, durchquerten Thrissur, kehrten kurz nach Coimbatore zurück und fuhren anschließend hinauf nach Ooty und weiter nach Mysore, bevor wir schließlich zurück nach Auroville fuhren. Die Vielfalt Südindiens ist überwältigend: Teeplantagen in allen erdenklichen Grüntönen, dichte Fichtenwälder, wilde Elefanten, die wir aus sicherer Entfernung beobachten konnten**, eine erstaunliche architektonische Bandbreite und das gesamte Spektrum zwischen Armut und Wohlstand. Die Zeit außerhalb Aurovilles hat mir noch einmal verdeutlicht, dass wir hier in einem Mikrouniversum leben, das sich in zahlreichen Aspekten deutlich vom umgebenden Südindien unterscheidet.

Manchmal stelle ich mir vor, was mein früheres Ich zu meinem jetzigen Leben sagen würde. Sie wäre verblüfft, dass Motorradfahren für mich inzwischen so selbstverständlich ist – ohne die technischen Überlegungen oder Ängste. Sie wäre stolz, dass ich wöchentlich bouldere und mich dabei ständig etwas verbessere. Sie wäre überrascht, wie problemlos ich so viel Zeit mit anderen Menschen verbringe, ohne das Bedürfnis nach Alleinsein zu spüren. Sie wäre neidisch auf die vergangenen und kommenden Motorradtouren und Ausflüge. Sie wäre beeindruckt von der Vielfalt an Workshops und kulturellen Veranstaltungen, die mir hier offenstehen. Sie wäre enttäuscht, dass meine Tamilkenntnisse noch immer begrenzt sind und ich die Sprache außerhalb des Unterrichts kaum nutze. Sie wäre erstaunt, dass Englisch nun 95% meines Alltags ausmacht und wie natürlich es mir inzwischen erscheint. Sie wäre wehmütig, dass ich alte Verbindungen recht selten pflege, und dass die Liste der Menschen, die ich anrufen möchte, immer länger wird. Sie wäre amüsiert, dass ich mittlerweile bei 22 Grad Celsius friere. Sie wäre zufrieden, dass ich mich hier so heimisch fühle und keinen Tag meine Entscheidung bereut habe.

Und schließlich: Sie würde lächeln – so wie ich gerade.


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