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  1. Tiefenökologie

    März 5, 2020 by Alina

    Was Tiefenökologie für mich bedeutet und warum es für mich eine wundervolle Methode ist, mit globalen Krisen umzugehen.

    In Auroville gibt es zahlreiche Gruppen, die sich mit Umweltthemen und nachhaltigem Handeln beschäftigen. Dazu gehört die „Deep Adaptation“-Gruppe, die sich mit dem Umgang der Klimakrise beschäftigt. Auf Basis eines Papers von Jem Bendell („Tiefenanpassung – ein Wegweiser, um uns durch die Klimakatastrophe zu führen“) werden drei zentrale Fragen gestellt:

    • Resilienz – Wie behalten wir, was wir wirklich behalten wollen?
    • Verzicht – Was müssen wir loslassen, um die Situation nicht zu verschlimmern?
    • Wiederherstellung – Was können wir wieder zurückbringen, damit wir mit den kommenden Schwierigkeiten und Tragödien fertig werden?

    Interessiert daran mitzuwirken und meinen Beitrag zum Umgang mit der Klimakrise zu leisten, habe ich die Werke von Joanna Macy für mich entdeckt. Da das Konzept nicht allzu bekannt ist, möchte ich in diesem Artikel beschreiben, wie ich das Thema für mich aufgenommen habe.

    „Wir sind jung und brauchen die Welt.“

    Wenn wir betrachten wo wir als Menschheit zurzeit stehen, ist die Klimakrise wohl die größte Herausforderung, da sie unsere Existenz als Spezies bedroht. Die Erde braucht die Menschen nicht, aber die Menschen die Erde. Und klar ist, dass so wie wir als Menschheit gerade leben, es nicht mehr lange weiter gehen kann. Solange wir leugnen, dass wir uns selbst zerstören, kann keine Veränderung passieren. Wie konnte es soweit kommen, dass wir ein solch destruktives Verhalten auf diesem Planeten ausüben? Durch unsere mechanistische Denkweise wurde die Spaltung von Natur und Geist vollzogen. Wir leben in einem gestörten Verhältnis mit der Natur, weil wir uns separat von ihr betrachten. Viele Menschen fühlen das Ungleichgewicht zwischen der überbetonten Außenwelt (Modebewusstsein, Statussymbole, Materialismus) und der vernachlässigten Innenwelt (kaum Vertrauen zur eigenen Intuition, mangelnde Beziehung zum eigenen Körper und seinen Bedürfnissen, fehlende Spiritualität) als Sinnleere.

    Die Tiefenökologie hat den Anspruch eine neue Geisteshaltung einzunehmen, bei der Freude am Einfachen, jedoch an inneren Werten reichem Leben und einem globalen sozialen Verantwortungsbewusstsein angestrebt wird. Die Lösung der ökologischen Krise hängt nach der Auffassung der Tiefenökologie wesentlich von der Entwicklung eines Bewusstseins um die Verbundenheit der Menschen mit allen Lebewesen ab. Umwelthandeln hätte dann eine dauerhafte Basis, denn Bewusstsein und Handeln verschmelzen zu einer Einheit. Die Entwicklung eines Mitwelt-Gefühls befähigt das dualistische Denken der Menschen zu überwinden, welches den Menschen der Natur gegenüberstellt.

    Doch wie kann dieses Bewusstsein erzeugt werden?

    Seit langem beschäftige ich mich damit, was es braucht, damit Menschen ihr Verhalten ändern. Meiner Meinung nach kann Veränderung nur dann geschehen, wenn nicht nur der Verstand angesprochen wird, sondern auch das Herz. Menschen sind emotionale Wesen, die irrational und nach ihren Gefühlen handeln. Deshalb reichen Informationen über Alternativen lange nicht aus, damit sich Verhalten ändert. Wir können dieser Krise nur effektiv begegnen, wenn wir sie auch auf einer Herzensebene anstatt nur auf einer Verstandsebene angehen.

    Wir alle haben natürliche Schutzmechanismen, die wir (unterbewusst) einsetzen, wenn wir mit Bedrohungen konfrontiert werden. Themen wie die Klimakrise sind keine leichte Kost, deshalb fühlen wir uns schnell hilflos und ausgeliefert, weil wir das Gefühl haben, sowieso nichts tun zu können. Folglich lenken wir uns lieber ab und lehnen Verantwortung daran ab, da wir nicht die Schwere der Belastung tragen wollen.

    Durch die Methoden der Tiefenökologie versuchen wir diese Hilflosigkeit und Starrheit in Resilienz und Handlungsfähigkeit umzuwandeln. Ziel ist es also, den biologisch angelegten Reaktionen auf globale Bedrohungen Raum zu geben, um ihrem transformativen Potential zur Entfaltung zu verhelfen.


    Work that reconnects – Joanna Macy

    Ich verfolge den Ansatz von Joanna Macy, die das Werk „The work that reconnects“ verfasst hat.

    In ihren Worten hilft die „Arbeit, die wiederverbindet“ sich miteinander und in den selbst heilenden Kräften des Lebens wieder zu erfahren und den Weltschmerz in inspirierte gemeinsame Handlung zu transformieren. Es geht darum, die richtigen Fragen zu stellen und den Gründen auf die Spur zu kommen, warum trotz des Bescheidwissens über die ökologische Krise kaum entgegengesteuert wird und dessen wahre Situation verdrängt, verleugnet und verschwiegen wird.

    „Die Krise, die unseren Planeten bedroht, entspricht einer untauglichen und pathologischen Sicht des Selbst, einem Irrtum, was unseren Platz in der Ordnung der Dinge angeht. Ich meine den Irrglauben, das Selbst existiere gesondert von allem anderen und sei so zerbrechlich, dass wir seine Grenzen immer wieder ziehen und verteidigen müssen; es sei so klein und bedürftig, dass wir unentwegt anschaffen und konsumieren müssen; es bestehe so sehr für sich abgetrennt, dass wir weder als Einzelne, noch als Gruppe, noch als Staaten, noch als Spezies eine Rückwirkung dessen, was wir anderen Lebewesen antun, auf uns selbst befürchten müssen.“ – Macy

    Die vier Phasen:

    The Work that Reconnects

    Die folgenden Schritte können durch sehr unterschiedliche Elemente gestaltet werden. Entscheidend ist dabei, aus der Verstandesebene herauszukommen und in das eigene Herz hineinzufühlen. Dazu können Bewegung, Musik, Tanz, Kunst, Meditation, Spüren des eigenen Körpers, Kontakt mit der Natur, etc. genutzt werden. Zentral sind die Begegnung und das Wahrnehmen anderer Wesen. Daher werden die Übungen optimalerweise in einer Gruppe durchgeführt, um zu spüren, dass wir gemeinsam hier auf dieser Erde sind und es gemeinsam wert sind, uns darum zu kümmern. Grundlage für die Verbindung miteinander ist das Aufnehmen von Augenkontakt und aktivem Zuhören.

    • 1. Dankbarkeit (Gratitude)

    Ein einfacher Weg, um auf Herzenseben zu gelangen ist es in die Dankbarkeit zu gehen. Wenn wir uns bewusst werden, was für ein Wunder es ist, am Leben zu sein und was für wundervolle Dinge wir erleben dürfen, kreieren wir so viel Liebe und Resilienz. Dankbarkeit ist unabhängig von äußeren Faktoren. Wir können immer, egal wie die Umstände sind, Dankbarkeit in uns erzeugen. Wenn wir dankbar sind, gelangen wir in den gegenwärtigen Moment. Wenn wir im gegenwärtigen Moment sind, können wir wirklich spüren, was da ist und was wir brauchen.

    • 2. Den Schmerz würdigen (Honoring the pain)

    „Hinter allem Schmerz steckt Liebe.“: Wir sind nur dann fähig Schmerzen zu empfinden, wenn wir lieben. Von der anderen Seite gesehen bedeutet Weltschmerz also auch, dass wir eine Liebe zum Leben empfinden.

    Schmerzen sind nichts anderes als ein Feedback, dass etwas nicht in Ordnung ist, dass etwas gesehen werden möchte. In diesem Schritt geben wir Gefühlen den Raum, gefühlt werden zu dürfen. Durch das Zulassen, durch das Fühlen des Schmerzes kann er geheilt werden. Unser Schmerz, den wir bisher isoliert in uns getragen haben, kann in Mitgefühl umgewandelt werden. Mitgefühl ist der Ausdruck des Leidens mit der Welt, welches Kennzeichnen eines erweiterten Selbst ist. Das bewusste Wahrnehmen des Schmerzes öffnet gleichzeitig die Quellen der Lebensfreude, um somit zur anderen Seite der Münze zu gelangen: Aus Liebe, anstatt aus Angst zu handeln.

    • 3. Mit neuen Augen sehen (Seeing it with new eyes)

    Nachdem wir den Schmerz gefühlt haben, wollen wir diesen transformieren und die Welt mit neuen Augen sehen – die Perspektive wechseln. Hier können wir uns beispielsweise mit unseren Vorfahren und mit den nachkommenden Generationen verbinden durch Meditationen, Rollenspiele etc. um die Menschheit aus einem weiteren Blickwinkel zu Betrachten. Wir sehen uns im großen Kreislauf des Lebens und erkennen, dass das Leben ein dynamisches Geflecht selbstorganisierender Systeme ist, dass nur durch ihre Beziehungen Bestand hat.

    • 4. Für das Leben handeln (Going forth)

    Im vierten Schritt wollen wir in Aktion treten wie wir unsere Rolle im großen Wandel finden. Optimalerweise befinden wir uns nun in einem Zustand der Verbundenheit. Wenn wir in Verbundenheit sind, sprechen wir von unserem Herzen, während, wenn wir uns getrennt fühlen, eher unser Verstand spricht. Wir können nun miteinander teilen, was in uns resoniert. Wie möchten wir gerne handeln, was trägt zur besten Version meines Selbst bei? Wenn wir nun erkannt haben, dass wir alle ein Teil eines Ganzen sind, anstatt uns isoliert zu betrachten, können wir uns als Bausteine erkennen.

    Die kleinen Dinge machen den Unterschied: Jede kleine Geste, jeder Gedanke, jedes Wort formt die eigene Realität. Wahre Veränderung kann nur von innen kommen, da alles was wir im Außen schaffen, erst im Inneren geschaffen wurde. Wir sind die Schöpfer unseres Lebens und jede kleine Entscheidung trägt zur Gestaltung dieser Welt bei.

    Tafel im Botanischen Garten

    “Was soll eine*r alleine schon erreichen? – fragte sich die halbe Menschheit.“

    Ich bin zurzeit mitten in der Planung meines ersten Workshops, den ich dazu gerne geben möchte, da es bei der Methode natürlich um das Erleben und Reinspüren geht und das Lesen dieses Artikels sicherlich nicht die Erfahrung ersetzt. Ich bin sehr gespannt, wie es ankommt und was sich daraus noch alles ergeben wird.


    Hier noch ein paar Links und weitere Infos:

    Homepage der Deep Adaptation Group Auroville http://deepadaptation.auroville.org/

    Jem Bendell – „Tiefenanpassung – ein Wegweiser, um uns durch die Klimakatastrophe zu führen“: http://deepadaptation.auroville.org/wp-content/uploads/2019/10/DeepAdaptation-de.pdf

    Joanna Macy – Coming back to life (Übungen: The Work that reconnects)

    Joanna Macy – World as Lover, World as Self

    Verein für verkörperte Ökologie und Kunst e.V. https://www.verkoerperte-oekologie.de/

    Kurzer, einfacher Artikel über die Bedeutung von Tiefenökologie:
    https://nachhaltig-sein.info/umdenken/tiefenoekologie-definition-bedeutung-joanna-macy

    Diplomarbeit zum Stellenwert der Tiefenökologie in der Umweltbildung https://www.hnee.de/…/outline/DA-Tiefenoekologie.x.pdf


  2. Leben auf der Discipline Farm

    Oktober 9, 2019 by Alina

    Seit zwei Monaten lebe ich nun in einer sogenannten Kapsel auf der Discipline Farm. Discipline klingt vielleicht erstmal hart, hat aber nichts mit Disziplin zu tun, sondern heißt so, da die Mutter das dort wachsende Basilikum so benannt hat. Mein Mitbewohner und ich leben zwar auf der Farm, haben aber nichts mit der Farmarbeit zu tun, da wir in anderen Projekten mitarbeiten. Die simple Lebensweise genieße ich sehr – auch wenn mich manchmal die Insekten in den Wahnsinn treiben, gleicht dies die Schönheit der Natur wieder aus.

    Die drei Kapseln
    Mein derzeitiges Schlafzimmer 🙂
    …von innen
    Sonnenaufgang
    Obstsalat
    Der Outdoor-Küchentisch – Beim Frühstück
    selbstgemachte Currys
    Teil der Farm / Umgebung der Kapseln

  3. Pitchandikulam – Eine Einführung

    Oktober 6, 2019 by Alina

    Gestern im Bus wurde ich gefragt, wie eigentlich mein Alltag im Projekt aussieht, woraufhin ich keine wirkliche Antwort geben konnte, da ich bisher kaum so etwas wie eine Routine entwickelt hat. Daher gilt dieser Beitrag als Versuch das Projekt Pitchandikulam Forest zu erklären – zumindest die Facetten, die ich in meinem ersten Monat hier kennenlernen durfte.

    Um den Unit Pitchandikulam Forest zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass im Zuge der Kolonialzeit fast alles an Urwald abgeholzt wurde. Vor über 50 Jahren war auf dem ganzen Land vom heutigen Auroville praktisch nichts an Flora und Fauna vorhanden – was schwer vorzustellen ist, da heute die Fülle an Bäumen, Sträuchern und Tieren immens ist. Einen bedeutenden Teil zur Wiederaufforstung trägt der Unit Pitchandikulam Forest bei, der sich zur Kernaufgabe gesetzt hat, die Fläche wieder mit einheimischen Bäumen zu bepflanzen und somit den sogenannten Tropical Dry Evergreen Forest wieder zu etablieren. Durch diese Maßnahmen gibt es dort heute über 800 verschiedene Gattungen von Pflanzen. Nicht nur in Auroville, sondern in vielen verschiedenen Regionen in Tamil Nadu, ist das Projekt involviert, um wiederaufzuforsten.

    Es gibt also doch Hoffnung für die Umwelt, wenn man hier sieht, wie viel in wenigen Jahren gepflanzt werde kann und wie eine einst karge Landschaft so viel grün zurückbekommen kann. Besonders genieße ich die Schmetterlingsvielfalt hier. Manchmal fühle ich mich dadurch wie in einem Märchen, wie Schneewitchen, das durch den Wald tanzt während alle Tiere um sie herumschwirren.

    Neu gepflanzte Bäume – mit Laub bedeckt um die Kleinen zu schützen
    Teil des Pitchandikulam Forest, im Hintergrund ein Windrad um Wasser zu pumpen
    Sicht vom Windrad über den Wald, im Hintergrund kommt dann das Meer 🙂
    Meine erste Einsatzstelle: Die Nursery
    Hier erwachen neue Heilpflanzen und Bäume zum Leben
    Im ethnomedizinischen Wald – ein kleiner Teil der Ausstellung der Pflanzengattungen

    Doch Wiederaufforstung ist nicht das Einzige, woran die Unit Pitchandikulam arbeitet. Weiterer zentraler Bestandteil vor Ort ist die Aufzucht von Heilpflanzen. So arbeitete ich in der ersten Woche zum Großteil in der Nursery (Baumschule), um die Sämlinge zu propagieren und lernte so ein paar Grundlagen indischer Heilpflanzenkunde. Die Arbeit mit den Heilpflanzen fällt auch unter den großen Bereich Community. So gibt es ein Team, das sich für Women Empowerment einsetzt und den Frauen zeigt, wie sie Heilpflanzen zu Medizin verarbeiten können. Diese Workshops finden hauptsächlich außerhalb Aurovilles in den Dörfern statt.

    Ein bedeutendes Zentrum der sogenannten „Outreach-Projekte“ liegt in Nadukuppam. Hier befindet sich ein ganzer Komplex von Umweltbildungsmaßnahmen. Neben Demonstrationskräuter und -gemüsegärten, die biologisch bewirtschaftet werden, wurde eine Schule eingerichtet, die den Fokus auf Umweltaktivitäten legt. In der Schule wurden beispielsweise sanitäre Anlagen installiert, die in einem Kreislaufsystem funktionieren: Mit Hilfe des Einsatzes von EM („effektive Mikroorganismen“) wird das Wasser so geklärt, dass es für das Bewässern der Felder benutzt werden kann. Sie ist die einzige Schule in Tamil Nadu, die ein solch integriertes Sanitärsystem besitzt.

    Wie anfangs erwähnt ist die Weitläufigkeit der Projekte immens, so habe ich beim letzten Meeting beispielsweise von der Kooperation mit Viva con agua – einer mir bekannten NGO aus Hamburg – mitbekommen, die an den Projekten interessiert sind, die sich um den Schutz des Wassereinzugsgebiet Kaluveli kümmern.

    Eine unserer Hauptaufgaben liegt nun darin das Museum im Forest selbst neu zu gestalten. Dazu basteln wir an Tierfiguren, um den Besucherinnen und Besucher die Bewohner des Waldes zu erklären und auf wichtige Merkmale wie die Unterscheidung von giftigen und ungiftigen Schlangen hinzuweisen. Außerdem werden bald neue Schulklassen zu Walderkundungen vorbeikommen, wo wir bei der Unterrichtsgestaltung mitwirken können.

    Der erste Versuch eine Schlange aus Ton zu formen, um sie in der „Waldszene“ auszustellen

    Alles in allem verstehe ich das Begreifen des Waldes und des Projektes als Prozess. So ist jeder Tag ein neues Erlebnis und ich habe großes Vertrauen darin, Tag für Tag mehr und mehr meinen Platz in dem ganzen Geflecht zu finden.


  4. Meine Kritik an der Kritik

    August 18, 2019 by Alina

    oder „Die drei Kategorien von Reaktionen auf mein Auslandsjahr“

    Wenn ich auf die letzten Wochen zurückblicke, habe ich vielen verschiedenen Personen von meinem Vorhaben – über Weltwärts nach Indien zu gehen – erzählt und grob kann ich die Reaktionen in drei Kategorien einteilen:


    Kategorie 1: Die Unterstützenden

    Typische Aussage: „Wow, wie cool, was für ein Abenteuer. Finde ich voll spannend.“

    Danke an euch. Ich bin mir sicher viele von euch, die das hier gerade lesen, fühlen sich hiermit angesprochen. Trotzdem ist es natürlich möglich, dass euch die anderen zwei Reaktionen auch schon durch den Kopf gegangen sind. 😊


    Kategorie 2: Die Besorgten

    Typische Aussage: „Indien? Oh mein Gott! Wie gefährlich. Und da willst du wirklich hin? Also für mich wäre das nichts.“

    Warum warnen mich eigentlich immer die Leute vor einem Land, die selbst noch gar nicht da waren? Woher wissen die Personen eigentlich immer so genau wie gefährlich es ist?

    Szenen aus Filmen und Berichte aus Nachrichten halte ich nicht gerade für eine repräsentative Darstellung eines Landes. Vor allem deshalb, da meist nur von Schreckensmeldungen und von besonders krassen Ereignissen berichtet wird, anstatt die Normalitäten und Gegebenheiten des Alltags zu zeigen. Sobald das Schlagwort „Indien“ fällt, erscheinen Bilder in unseren Kopf. Doch woher kommen diese Assoziationen? Sind es diese Bilder, die für uns das ganze Land definieren?

    Stereotype?

    Ich schreibe bewusst von „wir“, da ich mich von dieser Stereotypenbildung gar nicht ausschließen kann und will. Stereotype sind okay, solange sie nicht unreflektiert bleiben. Denn es ist ja nicht so, dass sie komplett falsch wären, aber sie repräsentieren eben nicht das Gesamte. Nur weil etwas unbekannt oder anders ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es falsch oder schlechter ist. Dieser Gedanke von der Überlegenheit von Deutschland über Indien kann vor allem auf koloniale Strukturen zurückgeführt werden. Dieser koloniale Blick kennzeichnet sich beispielsweise durch die Abwertung des Anderen durch die Konzentration auf und die ständige Wiederholung von Mängeln und Defiziten.

    
    
    
    
    

    Unsere Beziehung zum Globalen Süden ist maßgeblich durch das Erbe des europäischen Kolonialismus geprägt – sowohl ökonomisch als auch politisch und kulturell. Die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, ihre Geschichte, die sozialen Stellungen, die wir darin einnehmen (bezogen auf Geschlecht, Klasse, Rassismus, Gesundheit etc.), sind für jede Einzelne von uns eine Art Vorgeschichte: Durch sie haben wir gelernt, andere Menschen und Gesellschaften auf eine bestimmte Art wahrzunehmen und ihnen entsprechend zu begegnen. […]

    Der europäische Kolonialismus beinhaltete nicht nur die Besetzung bestimmter Gebiete und war dementsprechend nicht mit dem Abzug der Kolonialmächte beendet.
    Er ist ein Wissens-, Herrschafts- und Gewaltsystem, das fortlebt und unser Denken und Handeln bewusst oder unbewusst bestimmt.


    Koloniale Machtverhältnisse umfassen insbesondere drei Dimensionen:

    Eroberung, Kontrolle und ökonomische Ausbeutung sowie die Zwangsintegration in ein globales kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem

    Die weltweite Verbreitung europäischer Wissenssysteme und die Formung des Bewusstseins der Kolonisierenden und Kolonisierten

    Rassismus (= ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das Weißsein und Westlichsein bevorteilt und Schwarzsein/ „Nicht-Weißsein“ und „Nicht-Westlichsein“ benachteiligt)

    Quelle: Broschüre: „Mit kolonialen Grüßen – Berichte von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“

    Um nicht immer wieder diese gleichen Stereotype zu reproduzieren und diese kolonialen Strukturen wieder und wieder fest zu fahren, müssen wir uns offen begegnen, indem wir aufeinander zugehen, aus unserer Bequemlichkeitszone heraustreten. Wir brauchen Integration statt Teilung; wir brauchen Völkerverständigung; wir brauchen Austausch, um zu kapieren, dass wir alle eins sind. Überall auf dieser Welt gibt es Probleme und Gefahren, sowie auch Miteinander und Fürsorge. Überall gibt es Menschen, die die gleichen Sorgen und Wünsche haben. Vielleicht ist gerade dies eine der größten Herausforderungen der Menschheit: Das Überwinden der Grenzen zwischen denen, die als „wir“ gelten, und denen, die wir als „die anderen“ sehen.


    „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“

    Alexander von Humboldt


    Kategorie 3: Die Kritischen

    Typische Aussage: „Aha und was bringt das? Was kannst du schon in Indien helfen? Hilf doch lieber hier vor Ort.“

    Entwicklungshilfe im Entwicklungsland?

    Okay, da muss natürlich erstmal geklärt werden, was hier eigentlich wem hilft. Es ist ein Missverständnis, wenn dieser Freiwilligendienst mit Entwicklungshilfe gleichgesetzt wird: Das ist und soll er gar nicht leisten. Genau wie Entwicklungshilfe, sollte auch das Wort „Entwicklungsland“ vermieden werden, da damit hierarchisierende eurozentrische Vorstellungen von Entwicklung zum Ausdruck kommen, denen diese Länder zu folgen hätten. Alternativ können die Begriffspaare Globaler Süden bzw. Norden benutzt werden, um die unterschiedlichen politische, ökonomische und kulturelle Positionen im globalen Kontext zu benennen.

    Entwicklungszusammenarbeit?

    Im „weltwärts“-Kontext wird von Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. Das Wort Zusammenarbeit suggeriert den Austausch auf Augenhöhe: Dass ich mich einbringe, aber auch viel lerne, dass ich Neues aufnehme und reflektiere – neue Mentalitäten und Perspektiven verstehe. Also auf eine Ebene von Geben und Nehmen gehe, weg von postkolonialen Strukturen, bei denen sich der globale Norden dem globalen Süden überlegen fühlt.

    Entwicklung für Deutschland?

    Und was ist, wenn ich den Begriff „Entwicklung“ gar nicht unbedingt auf Indien beziehe, sondern auf Deutschland? Denn bei der Teilnahme an einem Freiwilligendienst darf nicht vergessen werden, dass es nicht nur um das eine Jahr im Ausland geht, sondern auch was danach daraus entsteht. Mit den neuen Perspektiven und Ideen, die ich in Indien dazu gewinne, will ich mich zurück in Deutschland aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels beteiligen.


    „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie ist ist, der will nicht, dass sie bleibt.“

    Erich Fried

    Wie dieses Zitat so schön ausdrückt: Es läuft etwas falsch, wenn es keine Veränderung gibt. Entwicklung ist omnipräsent, in jedem Land, überall herrscht zu jederzeit ein Prozess vor. Ich wage also einen Blick nach links und rechts, um – wie man so schön sagt – meinen Horizont zu erweitern, so dass ich irgendwann nicht mehr alles nur durch die deutsche Brille sehe, sondern auch Teile durch die tamilische Brille sehen kann. Und somit immer noch irgendwie deutsch denke, aber eben auch weiter. So komme ich im Optimalfall zurück nach Deutschland voller Inspiration, Motivation und Ideen im Gepäck. Daher lautet mein Motto für meinen Auslandsaufenthalt:

    Ich gehe hin, um zu lernen, nicht um zu lehren.“