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  1. Leben auf der Discipline Farm

    9. Oktober 2019 von Alina

    Seit zwei Monaten lebe ich nun in einer sogenannten Kapsel auf der Discipline Farm. Discipline klingt vielleicht erstmal hart, hat aber nichts mit Disziplin zu tun, sondern heißt so, da die Mutter das dort wachsende Basilikum so benannt hat. Mein Mitbewohner und ich leben zwar auf der Farm, haben aber nichts mit der Farmarbeit zu tun, da wir in anderen Projekten mitarbeiten. Die simple Lebensweise genieße ich sehr – auch wenn mich manchmal die Insekten in den Wahnsinn treiben, gleicht dies die Schönheit der Natur wieder aus.

    Die drei Kapseln
    Mein derzeitiges Schlafzimmer 🙂
    …von innen
    Sonnenaufgang
    Obstsalat
    Der Outdoor-Küchentisch – Beim Frühstück
    selbstgemachte Currys
    Teil der Farm / Umgebung der Kapseln

  2. Pitchandikulam – Eine Einführung

    6. Oktober 2019 von Alina

    Gestern im Bus wurde ich gefragt, wie eigentlich mein Alltag im Projekt aussieht, woraufhin ich keine wirkliche Antwort geben konnte, da ich bisher kaum so etwas wie eine Routine entwickelt hat. Daher gilt dieser Beitrag als Versuch das Projekt Pitchandikulam Forest zu erklären – zumindest die Facetten, die ich in meinem ersten Monat hier kennenlernen durfte.

    Um den Unit Pitchandikulam Forest zu verstehen, ist es wichtig zu wissen, dass im Zuge der Kolonialzeit fast alles an Urwald abgeholzt wurde. Vor über 50 Jahren war auf dem ganzen Land vom heutigen Auroville praktisch nichts an Flora und Fauna vorhanden – was schwer vorzustellen ist, da heute die Fülle an Bäumen, Sträuchern und Tieren immens ist. Einen bedeutenden Teil zur Wiederaufforstung trägt der Unit Pitchandikulam Forest bei, der sich zur Kernaufgabe gesetzt hat, die Fläche wieder mit einheimischen Bäumen zu bepflanzen und somit den sogenannten Tropical Dry Evergreen Forest wieder zu etablieren. Durch diese Maßnahmen gibt es dort heute über 800 verschiedene Gattungen von Pflanzen. Nicht nur in Auroville, sondern in vielen verschiedenen Regionen in Tamil Nadu, ist das Projekt involviert, um wiederaufzuforsten.

    Es gibt also doch Hoffnung für die Umwelt, wenn man hier sieht, wie viel in wenigen Jahren gepflanzt werde kann und wie eine einst karge Landschaft so viel grün zurückbekommen kann. Besonders genieße ich die Schmetterlingsvielfalt hier. Manchmal fühle ich mich dadurch wie in einem Märchen, wie Schneewitchen, das durch den Wald tanzt während alle Tiere um sie herumschwirren.

    Neu gepflanzte Bäume – mit Laub bedeckt um die Kleinen zu schützen
    Teil des Pitchandikulam Forest, im Hintergrund ein Windrad um Wasser zu pumpen
    Sicht vom Windrad über den Wald, im Hintergrund kommt dann das Meer 🙂
    Meine erste Einsatzstelle: Die Nursery
    Hier erwachen neue Heilpflanzen und Bäume zum Leben
    Im ethnomedizinischen Wald – ein kleiner Teil der Ausstellung der Pflanzengattungen

    Doch Wiederaufforstung ist nicht das Einzige, woran die Unit Pitchandikulam arbeitet. Weiterer zentraler Bestandteil vor Ort ist die Aufzucht von Heilpflanzen. So arbeitete ich in der ersten Woche zum Großteil in der Nursery (Baumschule), um die Sämlinge zu propagieren und lernte so ein paar Grundlagen indischer Heilpflanzenkunde. Die Arbeit mit den Heilpflanzen fällt auch unter den großen Bereich Community. So gibt es ein Team, das sich für Women Empowerment einsetzt und den Frauen zeigt, wie sie Heilpflanzen zu Medizin verarbeiten können. Diese Workshops finden hauptsächlich außerhalb Aurovilles in den Dörfern statt.

    Ein bedeutendes Zentrum der sogenannten „Outreach-Projekte“ liegt in Nadukuppam. Hier befindet sich ein ganzer Komplex von Umweltbildungsmaßnahmen. Neben Demonstrationskräuter und -gemüsegärten, die biologisch bewirtschaftet werden, wurde eine Schule eingerichtet, die den Fokus auf Umweltaktivitäten legt. In der Schule wurden beispielsweise sanitäre Anlagen installiert, die in einem Kreislaufsystem funktionieren: Mit Hilfe des Einsatzes von EM („effektive Mikroorganismen“) wird das Wasser so geklärt, dass es für das Bewässern der Felder benutzt werden kann. Sie ist die einzige Schule in Tamil Nadu, die ein solch integriertes Sanitärsystem besitzt.

    Wie anfangs erwähnt ist die Weitläufigkeit der Projekte immens, so habe ich beim letzten Meeting beispielsweise von der Kooperation mit Viva con agua – einer mir bekannten NGO aus Hamburg – mitbekommen, die an den Projekten interessiert sind, die sich um den Schutz des Wassereinzugsgebiet Kaluveli kümmern.

    Eine unserer Hauptaufgaben liegt nun darin das Museum im Forest selbst neu zu gestalten. Dazu basteln wir an Tierfiguren, um den Besucherinnen und Besucher die Bewohner des Waldes zu erklären und auf wichtige Merkmale wie die Unterscheidung von giftigen und ungiftigen Schlangen hinzuweisen. Außerdem werden bald neue Schulklassen zu Walderkundungen vorbeikommen, wo wir bei der Unterrichtsgestaltung mitwirken können.

    Der erste Versuch eine Schlange aus Ton zu formen, um sie in der „Waldszene“ auszustellen

    Alles in allem verstehe ich das Begreifen des Waldes und des Projektes als Prozess. So ist jeder Tag ein neues Erlebnis und ich habe großes Vertrauen darin, Tag für Tag mehr und mehr meinen Platz in dem ganzen Geflecht zu finden.


  3. Noch keine Kokosnuss auf den Kopf

    1. Oktober 2019 von Emma

    Wieder nähert sich ein Monat dem Ende und mit dem Monatsende kommt ein neuer Bericht von mir. Diesen Monat habe ich beschlossen einen (relativ) typischen Tag zu beschreiben. Ich sage relativ typisch weil es auch nach fast einem Monat Arbeiten noch keinen hundert Prozent typischen Tag gibt.

    Der Tag meiner Wahl (Donnerstag der 26.9.19) beginnt wie die meisten Tage mit dem Frühstück. Weil ich heute etwas mehr Zeit als gewöhnlich habe mache ich mir ein Rührei zu meinem Marmeladenbrot und Bananen (Ei und Marmelade sind von AuroOrchard und die Bananen etwa halb so groß wie die in Deutschland).

    Nach dem Frühstück geht es ziemlich schnell zur Arbeit, zum Glück bin ich mit dem Fahrrad in  10 Minuten da. Wie jeden Donnerstag ernten wir zunächst einmal. Dienstag, Donnerstag und Samstag sind hier Erntetage, das heißt bis etwa 9 sind alle damit beschäftigt zu ernten, putzen, sortieren und natürlich wiegen. Ich persönlich habe Bohnen geerntet, Elefantenfüße (ein Weurzelgemüse, engl. elefantfoot) und Bassella Spinat sortiert und verpackt. Am Ende waren wir sogar noch vor 9 Uhr fertig und hatten so vor der Pause (die um 9 beginnt) Zeit eine Hecke zwischen den Feldern (aus Bäumen nicht Büschen) zu beschneiden. Mit den abgeschnittenen Ästen wird später noch weiter gearbeitet, aber erst mal ist Pause. Pause ist einer meiner lieblings Zeiten, alle Freiwilligen (was hier Freiwillige und Aurovillianer bedeutet) die auf der Farm arbeiten treffen sich und essen gemeinsam ein zweites Frühstück. Dies besteht meistens aus Obst, Marmelade (beides von der Farm) sowie Brot und Getreidebrei(nur wenn wir viele sind, variiert von Tag zu Tag). Heute ist jedoch eine Ausnahme, Sozic, eine Freiwillige aus Frankreich, geht bald von der Farm und feiert deswegen heute mit Kuchen ihren Abschied.

    Nach der Pause werden die vorhin abgeschnittenen Äste sortiert, kleine Äste und Blätter kommen direkt als Mulch aufs Feld, größere werden vorher noch gehexelt. Das ist auch schon die nächste Aufgabe, weil der Hexler nur alle paar Tage angemacht wird hexeln wir nicht nur die heutigen Äste sondern auch noch die der letzten Tage. Nachdem alles auf den Feldern verteilt ist bleibt gerade noch genug Zeit einige Tarowurzeln umzupflanzen bevor es auch schon wieder 12 (und damit Feierabend) ist.

    Nach dem Arbeiten gehe ich wie üblich in die Solar Kitchen, eine große Kantine in Auroville, die mit Solarenergie kocht. Ich habe inzwischen auch ein Abo in der SK und esse deswegen sechs Mal die Woche dort, ist einfach super entspannt.

    Nachmittags habe ich nicht viel zu tun, wie üblich dusche ich nach dem Mittagessen erst einmal Schweiß und Erde ab und mache ein Nickerchen, Wäsche muss auch noch gewaschen werden. Und vor meinem Abendprogramm habe ich sogar noch Zeit eine kleine Runde laufen zu gehen.

    Mein heutiges Abendprogramm besteht nicht aus einem der vielen Kurse, die hier täglich angeboten werden (fast so viele wie morgens, aber da muss ich ja arbeiten). Stattdessen ist in Udavi (also bei mir zu Hause) Filmabend. Die ganze Idee des Filmabends startete vor einigen Wochen mit Josef und mir, die gemeinsam Star Wars noch einmal anschauen wollten. Bis wir uns dann auf ein Datum geeinigt hatten, waren wir schon fünf Leute, die gemeinsam Kochen und einen Film anschauen wollten. Irgendwie hat es sich dann aber doch rumgesprochen, denn am Ende waren wir acht Leute, die auf Josefs Laptop ’Eine neue Hoffnug‘ schauen wollten. Vorher mussten wir aber von dem für fünf Leute geplanten Essen satt werden. Max hat am Ende Lieferboten gespielt und ist noch mal zu Neem Tree (einem unserer lieblings Restaurants) gefahren. Mit dem ganzen Chaos ums Essen rückte der Film dann etwas in den Hintergrund und weil es auch schon spät war und wir alle morgen arbeiten müssen löste sich der Filmabend schon auf bevor Luke und Ben Tattoine überhaupt verlassen konnten. Na ja müssen wir halt noch einen Filmabend machen, der letzte war ja schön.


  4. Noch kein Koffer oder Rucksack verloren gegangen (oder geklaut)

    1. September 2019 von Emma

    Die ersten 10 Tage sind ein Wirbelsturm aus Aktivitäten. Zwischen unserer Ankunft am 22.8 und dem Einzug in unsere Wohnungen am 31.8/1.9 wohnen wir nämlich nicht nur gemeinsam in einem Guest House (eine lokale Mischung aus Hotel und Jugendherberge, unseres hat 2er bis 4er Zimmer sowie geteilte Bäder und Küche) sondern besuchen auch alle Einsatzstellen, Wohnungen und einige wichtige Orte in Auroville.

    Zu beschreiben was wir also alles in den letzten Tagen gesehen und erlebt haben würde eine Ewigkeit brauchen. Deshalb habe ich mich auf drei Highlights und zwei nicht so Highlights beschränkt.

    Eines meiner Highlights muss natürlich meine eigene Einsatzstelle die Farm AuroOrchard sein. Nicht nur weil es meine Einsatzstelle ist, sondern auch weil es einfach ein super schöner Ort ist. Der Großteil unseres Besuchs war eine Führung einmal um die Farm, mit Erklärungen zu den verschiedenen Pflanzen und Tieren und wie sie miteinander interagieren. Als wir an den Avocado-Bäumen vorbei kamen gab es sogar gratis Avocados, es ist gerade Avocado-Saison. Das beste am Orchard war jedoch der Snack unter dem Banyanbaum. Nicht nur war es schön schattig es gab auch Papaya, Jackfruit und Avocados, alles aus Eigenanbau, und selbstgemachte Avocadocreme und Getränke. Rundum ein mega leckerer Snack.

    Mein zweites Highlight ist der Besuch bei WasteLess, einer der anderen Einsatzstellen, die sich mit Müll Reduzierung und Bildung von Kindern (auch über Müll) beschäftigt. Bei WasteLess waren nicht nur alle super freundlich und hilfsbereit, sondern es gab auch eine ziemlich interessante Präsentation zu den verschiedenen Themen mit denen man sich dort beschäftigt. Im Laufe dieser Präsentation haben wir unteranderem auch gelernt wie man verschiedene Plastikarten unterscheidet und welche am schädlichsten sind.

    Das letzte meiner Highlights ist zwar nicht mehr Teil der offiziellen Einführungsphase, verdient aber definitiv einen Platz auf dieser Liste: der erste Besuch in Pondicherry, der nächst größeren Stadt. Dieser Besuch war optional, am Samstagnachmittag, nachdem die Einführungsphase am Vormittag offiziell endete, sind einfach alle die wollten mit Bärbel (einer unserer Mentorinen) in den Bus nach Pondi gestiegen. Die Busfahrt dauerte etwa 40 Minuten und war etwas holprig. Besonders weil der 12 Sitze Bus mit unserer Neunergruppe und einigen Aurovillianern so überfüllt war, dass ich und einige andere Stehen mussten. Endlich angekommen begannen wir nach einer kurzen Kokosnusspause, lokal, frisch und sehr lecker, unsere Erkundungstour durch die Hauptshoppingmeile. Da wir doch relativ viele waren teilten wir uns schnell in zwei Gruppen, die eine wurde von Bärbel rumgeführt, die andere verschwand mit Jürgen, der uns mit dem Motorrad vorrausgefahren war. Über etwa zweieinhalb Stunden erkundeten wir nicht nur einen Supermarkt mit europäischen Produkten, Teile des Marktes (nicht den Fischmarkt, den roch man schon von weitem) und verschiedene Läden. Trotzdem blieb noch genug Zeit für einen kleinen Snack in einem Indischen Coffe House, das außer uns ausschließlich von Indern besucht war. Bevor wir dann auch schon zum Bus zurück mussten kaufte ich mir noch schnell ein Schloss für das Fahrrad, das ich in den nächsten Tagen kaufen will.

    Mein erstes nicht Highlight war der Besuch bei der Einsatzstelle SunlitFuture, die sich vor allem mit Solarenergie beschäftigt. Das Problematische an diesem Besuch war nicht, dass ich am Thema nicht interessiert bin, sondern vielmehr, dass es zu wenig Informationen gab. Das lag aber hauptsächlich daran, dass der Chef und die meisten Mitarbeiter bei einer Konferenz waren und wir von einer relativ neuen Mitarbeiterin rumgeführt wurden, die nicht wirklich wusste was sie uns zeigen oder erzählen sollte. Wir durften trotzdem aufs Dach klettern und uns die Hauseigenen Solarpanele anschauen, also war der Besuch nicht grundlegend schlecht. Hierbei möchte ich auch noch mal anmerken, dass es sich nicht um Tiefpunkte handelt, sondern legendlich um nicht Highlights, die einfach nicht so toll wie der Rest waren.

    Mein zweites nicht ganz Highlight war die Erkenntnis, dass ich in Indien zum Zahnarzt muss. Diese kam etwa zwei Wochen nachdem ich mir vier Weisheitszähne entfernen ließ um genau solch einen Besuch zu vermeiden. Während unseres Besuchs des Botanischen Gartens am Montagmorgen war ich geplagt von Kopfschmerzen und leichten Zahnschmerzen. Nachdem ich im Laufe des Nachmittags zusätzlich bemerkte, dass meine Wange wieder angeschwollen und mein Zahnfleisch leicht gerötet war schien ein Zahnarztbesuch unausweichlich. Bis zum nächsten Morgen konnte ich mich jedoch noch gedulden. Und so kam es, dass ich Dienstag morgen auf einer komplett horizontalen Arztliege lag und nach einem dieser kleinen Waschbecken zum Ausspucken suchte. Die Horizontale Liege und das fehlende Spuckbecken sind die zwei größten Unterschiede zum Zahnarzt in Deutschland, wobei letzteres kulturell bedingt ist, wie ich inzwischen weiß. Wie bereits vermutet hatte sich etwas Essen in meiner linken Backe verfangen und entzündet. Der Arzt kommentierte dies mit den Worten „So much food, so much food“, während er besagtes Essen wieder entfernte und verhinderte, dass sich neues verfängt. Danach gab es noch schnell ein Rezept für neue Antibiotika und Schmerzmittel, das auch prompt bei der Auroville-Apotheke um die Ecke eingelöst wurde. Zumindest der Antibiotika Teil, denn meine Zahnschmerzen waren inzwischen bereits wieder verflogen. Bevor ich mich versah war ich auch schon wieder beim Rest der Gruppe und erhaschte noch einen Schnellen Blick in ein Klassenzimmer der Aikiam-Schule.Und weil das ganze so viel Spaß gemacht hat geht es nächsten Mittwoch auch schon wieder zur Nachkontrolle, dieses Mal jedoch ohne Koordinatorin.


  5. Meine Kritik an der Kritik

    18. August 2019 von Alina

    oder „Die drei Kategorien von Reaktionen auf mein Auslandsjahr“

    Wenn ich auf die letzten Wochen zurückblicke, habe ich vielen verschiedenen Personen von meinem Vorhaben – über Weltwärts nach Indien zu gehen – erzählt und grob kann ich die Reaktionen in drei Kategorien einteilen:


    Kategorie 1: Die Unterstützenden

    Typische Aussage: „Wow, wie cool, was für ein Abenteuer. Finde ich voll spannend.“

    Danke an euch. Ich bin mir sicher viele von euch, die das hier gerade lesen, fühlen sich hiermit angesprochen. Trotzdem ist es natürlich möglich, dass euch die anderen zwei Reaktionen auch schon durch den Kopf gegangen sind. 😊


    Kategorie 2: Die Besorgten

    Typische Aussage: „Indien? Oh mein Gott! Wie gefährlich. Und da willst du wirklich hin? Also für mich wäre das nichts.“

    Warum warnen mich eigentlich immer die Leute vor einem Land, die selbst noch gar nicht da waren? Woher wissen die Personen eigentlich immer so genau wie gefährlich es ist?

    Szenen aus Filmen und Berichte aus Nachrichten halte ich nicht gerade für eine repräsentative Darstellung eines Landes. Vor allem deshalb, da meist nur von Schreckensmeldungen und von besonders krassen Ereignissen berichtet wird, anstatt die Normalitäten und Gegebenheiten des Alltags zu zeigen. Sobald das Schlagwort „Indien“ fällt, erscheinen Bilder in unseren Kopf. Doch woher kommen diese Assoziationen? Sind es diese Bilder, die für uns das ganze Land definieren?

    Stereotype?

    Ich schreibe bewusst von „wir“, da ich mich von dieser Stereotypenbildung gar nicht ausschließen kann und will. Stereotype sind okay, solange sie nicht unreflektiert bleiben. Denn es ist ja nicht so, dass sie komplett falsch wären, aber sie repräsentieren eben nicht das Gesamte. Nur weil etwas unbekannt oder anders ist, bedeutet das nicht automatisch, dass es falsch oder schlechter ist. Dieser Gedanke von der Überlegenheit von Deutschland über Indien kann vor allem auf koloniale Strukturen zurückgeführt werden. Dieser koloniale Blick kennzeichnet sich beispielsweise durch die Abwertung des Anderen durch die Konzentration auf und die ständige Wiederholung von Mängeln und Defiziten.

    Unsere Beziehung zum Globalen Süden ist maßgeblich durch das Erbe des europäischen Kolonialismus geprägt – sowohl ökonomisch als auch politisch und kulturell. Die Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, ihre Geschichte, die sozialen Stellungen, die wir darin einnehmen (bezogen auf Geschlecht, Klasse, Rassismus, Gesundheit etc.), sind für jede Einzelne von uns eine Art Vorgeschichte: Durch sie haben wir gelernt, andere Menschen und Gesellschaften auf eine bestimmte Art wahrzunehmen und ihnen entsprechend zu begegnen. […]

    Der europäische Kolonialismus beinhaltete nicht nur die Besetzung bestimmter Gebiete und war dementsprechend nicht mit dem Abzug der Kolonialmächte beendet.
    Er ist ein Wissens-, Herrschafts- und Gewaltsystem, das fortlebt und unser Denken und Handeln bewusst oder unbewusst bestimmt.


    Koloniale Machtverhältnisse umfassen insbesondere drei Dimensionen:

    Eroberung, Kontrolle und ökonomische Ausbeutung sowie die Zwangsintegration in ein globales kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem

    Die weltweite Verbreitung europäischer Wissenssysteme und die Formung des Bewusstseins der Kolonisierenden und Kolonisierten

    Rassismus (= ein gesellschaftliches Machtverhältnis, das Weißsein und Westlichsein bevorteilt und Schwarzsein/ „Nicht-Weißsein“ und „Nicht-Westlichsein“ benachteiligt)

    Quelle: Broschüre: „Mit kolonialen Grüßen – Berichte von Auslandsaufenthalten rassismuskritisch betrachtet“

    Um nicht immer wieder diese gleichen Stereotype zu reproduzieren und diese kolonialen Strukturen wieder und wieder fest zu fahren, müssen wir uns offen begegnen, indem wir aufeinander zugehen, aus unserer Bequemlichkeitszone heraustreten. Wir brauchen Integration statt Teilung; wir brauchen Völkerverständigung; wir brauchen Austausch, um zu kapieren, dass wir alle eins sind. Überall auf dieser Welt gibt es Probleme und Gefahren, sowie auch Miteinander und Fürsorge. Überall gibt es Menschen, die die gleichen Sorgen und Wünsche haben. Vielleicht ist gerade dies eine der größten Herausforderungen der Menschheit: Das Überwinden der Grenzen zwischen denen, die als „wir“ gelten, und denen, die wir als „die anderen“ sehen.


    „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die der Leute, welche die Welt nie angeschaut haben.“

    Alexander von Humboldt


    Kategorie 3: Die Kritischen

    Typische Aussage: „Aha und was bringt das? Was kannst du schon in Indien helfen? Hilf doch lieber hier vor Ort.“

    Entwicklungshilfe im Entwicklungsland?

    Okay, da muss natürlich erstmal geklärt werden, was hier eigentlich wem hilft. Es ist ein Missverständnis, wenn dieser Freiwilligendienst mit Entwicklungshilfe gleichgesetzt wird: Das ist und soll er gar nicht leisten. Genau wie Entwicklungshilfe, sollte auch das Wort „Entwicklungsland“ vermieden werden, da damit hierarchisierende eurozentrische Vorstellungen von Entwicklung zum Ausdruck kommen, denen diese Länder zu folgen hätten. Alternativ können die Begriffspaare Globaler Süden bzw. Norden benutzt werden, um die unterschiedlichen politische, ökonomische und kulturelle Positionen im globalen Kontext zu benennen.

    Entwicklungszusammenarbeit?

    Im „weltwärts“-Kontext wird von Entwicklungszusammenarbeit gesprochen. Das Wort Zusammenarbeit suggeriert den Austausch auf Augenhöhe: Dass ich mich einbringe, aber auch viel lerne, dass ich Neues aufnehme und reflektiere – neue Mentalitäten und Perspektiven verstehe. Also auf eine Ebene von Geben und Nehmen gehe, weg von postkolonialen Strukturen, bei denen sich der globale Norden dem globalen Süden überlegen fühlt.

    Entwicklung für Deutschland?

    Und was ist, wenn ich den Begriff „Entwicklung“ gar nicht unbedingt auf Indien beziehe, sondern auf Deutschland? Denn bei der Teilnahme an einem Freiwilligendienst darf nicht vergessen werden, dass es nicht nur um das eine Jahr im Ausland geht, sondern auch was danach daraus entsteht. Mit den neuen Perspektiven und Ideen, die ich in Indien dazu gewinne, will ich mich zurück in Deutschland aktiv an der Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels beteiligen.


    „Wer will, dass die Welt so bleibt, wie ist ist, der will nicht, dass sie bleibt.“

    Erich Fried

    Wie dieses Zitat so schön ausdrückt: Es läuft etwas falsch, wenn es keine Veränderung gibt. Entwicklung ist omnipräsent, in jedem Land, überall herrscht zu jederzeit ein Prozess vor. Ich wage also einen Blick nach links und rechts, um – wie man so schön sagt – meinen Horizont zu erweitern, so dass ich irgendwann nicht mehr alles nur durch die deutsche Brille sehe, sondern auch Teile durch die tamilische Brille sehen kann. Und somit immer noch irgendwie deutsch denke, aber eben auch weiter. So komme ich im Optimalfall zurück nach Deutschland voller Inspiration, Motivation und Ideen im Gepäck. Daher lautet mein Motto für meinen Auslandsaufenthalt:

    Ich gehe hin, um zu lernen, nicht um zu lehren.“