Vorwort:
Liebe offizielle Stellen, da ich ein eher kreativer Mensch bin, und in meiner vorherigen Arbeit viele langweilige 0815-Berichte gelesen und geschrieben habe, folgt nun ein Bericht der etwas anderen Art. Dennoch werden in dem Bericht die Reflexionsfragen, die wir als Inspiration an die Hand gelegt bekommen haben, beantwortet.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.
Spieglein, Spieglein an der Wand….
…sag mir, wie geht es mir, nach 6 Monaten Auroville?
„Warum fragst du mich das? Ich bin nur ein Spiegel. Du musst doch am besten wissen, wie du dich fühlst!“
„Na! Weil du ein Spiegel bist. Du kannst doch jedes Objekt und jede Person reflektieren, das/die vor dir steht. Komm schon! Sag mir wie ich mich fühle.“
„Nun gut ich will den Versuch wagen und dir erzählen, wie du dich fühlst. Lass mal sehen. Am Anfang war alles neu für dich und du musstest dich erstmal einleben. Doch auch nachdem du Auroville und alles drumherum kennengelernt hast, war ein Gefühl in dir präsent. Du hast dich hier fremd gefühlt. Irgendwie fühltest du dich nicht zuhause. Und schließlich kam eine Zeit, ungefähr nach 4 Monaten, in der sich all deine negativen Emotionen zu einer dunklen Wolke über dir verhärtet haben. In der Zeit stank dir ganz Auroville zum Himmel und du wolltest einfach nur weg. Alles machte dich missmutig und manchmal warst du depressiv. Daher hast du Urlaub genommen. Der Urlaub hat dir gutgetan. Einen ganzen Monat Abstand von Auroville! Es war ein Traum für dich. Und als du wieder zurückgekehrt bist, haben sich deine Gefühle in Bezug auf Auroville komplett verändert. Schließlich hast du dich in Auroville endlich angekommen gefühlt. Jetzt fühlst sich Auroville für dich wie eine Heimat an. Dir ist zwar klar, dass du hier nicht leben möchtest, aber das ist damit auch gar nicht gemeint. Du fühlst dich nun gut hier. Du kennst den Ort hier. Auf Menschen, besonders auf die in der MDJ-Community, kannst du jetzt mit mehr Leichtigkeit zugehen. Du magst dein Zimmer und bist glücklich darüber, dass du in MDJ für sechs weitere Monate bleiben kannst.
Dennoch macht sich Traurigkeit in dir breit. Es sind nur noch fünf Monate. Dann geht es zurück in dein Heimatland. Der Gedanke an die wenige Zeit, die dir hier noch bleibt, macht dich wehmütig. Es fühlt sich so an, als müsstest du noch so viel hier machen. Als würdest du unendlich viel verpassen, wenn du gehst. Es gibt hier noch so viel zu erleben und zu erfahren. Und du fühlst, als hättest du bis jetzt noch Garnichts gemacht. Die Zeit ist verflogen. Viel zu viel Zeit ist für die Arbeit draufgegangen. Einen Großteil deiner Interessen konntest du nicht befriedigen. Und dann ist da noch die indische Frau, in die du verliebt bist. Du hast Ideen, wie es mit euch weitergeht, aber dennoch ist alles so ungewiss und unsicher. Du weißt nicht was passieren wird, aber du hast einen Plan und du versuchst deine ganze Energie in diesen Plan zu legen. Es gibt dir Kraft und doch fühlst du dich manchmal kraftlos, unsicher und planlos. Du wandelst zwischen zwei Welten. Zwischen zwei Gefühlszuständen. Du bist glücklich und traurig. Du bist Feuer und Wasser. Du möchtest allein sein und doch in Zweisamkeit verweilen. Du bist hier und dann doch dort. Du bist ein Chaos und doch eine Ordnung. Das ist, was in dir vorgeht. Und zum ersten Mal in deinem Leben bist du dir all dieser Zustände, all dieser Emotionen, all dieser Gedanken bewusst.
Lass mich dir einen Rat geben:
Finde deine Mitte, dein Zentrum, deine Harmonie, dein Gleichgewicht! Das ist das, worauf du deinen Fokus legen solltest. Dann wird alles zu dir kommen. Sorgen gehören zum Leben dazu wie auch glücklich zu sein. Neben Angst ist auch Selbstbewusstsein da. Arbeit braucht Relaxation. Das eine kann ohne das andere nicht bestehen. Merke dir das. Lass die Gefühle zu und sei präsent mit ihnen. Es ist gut, dass du fühlst. Es ist gut, dass du bist. Also genieße alles, was du hier noch erlebst, erfährst und fühlst. Sei es noch so klein und unbedeutend. Es ist deine Welt und sie passiert mit dir, nicht gegen dich. Also akzeptiere sie, so wie sie ist.“
„Okay, danke lieber Spiegel für die Einsicht in meine Gefühlszustände und danke für deinen Ratschlag. Ich werde ihn beherzigen. Wenn du so weise bist, kannst du mir sicherlich noch eine weitere Frage beantworten.
…sag mir, was war für mich die größte Herausforderung, hier in Auroville?“
„Leben ist eine Herausforderung. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute siehst du dich konfrontiert mit Dingen. Es gibt normale Alltagsaufgaben, wie zum Beispiel Wäsche waschen, kochen, spülen, Einkaufen, die du erledigen musst, andernfalls ist es schwierig zu überleben.
Darüber hinaus musst du Entscheidungen treffen und dabei immer im Hinterkopf haben, was du brauchst und wie du dich fühlst. Sich deiner Bedürfnisse und Gefühle bewusst zu sein. Dich selbst zu reflektieren und gesunde Schlüsse rauszuziehen, ist herausfordernd.
Doch auch wenn du Entscheidungen triffst, die mit dir in Harmonie stehen, gibt es auch immer noch Menschen um dich herum. Jede / Jeder hat Bedürfnisse und Gefühle. Manchmal stehen diese im Konflikt mit deinen eigenen. Die der anderen in Einklang mit deinen eigenen zu bringen, ist herausfordernd, ja manchmal sogar unmöglich.
Hier in Auroville war die größte Herausforderung, für dich lieber Rick, in einer Beziehung zu leben. Du bist eigentlich ein sehr in sich selbst gekehrter Mensch. Du liebst es allein zu sein, für dich zu sein. In deiner Vergangenheit warst du immer allein. Du hast sogar eine Angst vor sozialen Kontakten und vor Nähe entwickelt. Paradoxerweise warst du auch einsam und du hast dich eigentlich nach jemanden gesehnt, der dich versteht, dich fühlt, dich hält, dich liebt für den der du bist. Nie zuvor warst du in einer Beziehung nun steckst du mittendrin. Es macht dich glücklich. Doch am Anfang war es schwierig. Die eigenen Bedürfnisse mit den von einer anderen Person in Einklang zu bringen war nicht leicht. Oft gab es Konflikte. Über Kleinigkeiten sowie über große Themen. In der Diskussion habt ihr euch aber nicht selbst verloren. Nein, immer wieder saßt du mit ihr zusammen und habt über euch gesprochen. Und darüber welche Bedürfnisse ihr eigentlich braucht. Nach dem Gespräch ist dir viel zu oft, lieber Rick, ein Licht aufgegangen und dir ist klar geworden, was du selbst eigentlich brauchst. Die Konflikte haben euch mehr zueinander gebracht als auseinandergetrieben. Ihr habt gelernt, welche Perspektive die andere Person hat. In dem Reflexionsseminar, welches du heute hattest, konntest du schließlich dein Gelerntes Wissen anwenden. Ihr habt heute darüber gesprochen, wie Konflikte entstehen und eskalieren können. Und darüber, wie Konflikte in einem diplomatischen Weg ablaufen können, sodass daraus eine Kooperation entstehen kann. DU konntest verstehen und nachvollziehen, was euch erzählt wurde.
Jetzt kannst du mit Fug & Recht behaupten, dass du vielleicht kein Meister, aber doch ein fortgeschrittener Anfänger in Sachen Konflikt-Bewältigung bist. Herzlichen Glückwunsch!“
„Nun Spiegel, eine letzte Frage sei mir hoffentlich noch gestattet….
…sag mir, wie habe ich mich verändert? Ist dir mittlerweile etwas anderes wichtiger als vorher?
Nun, du hast dich verändert und bist dennoch derselbe geblieben. Du kamst nach Auroville, um herauszufinden wohin es für dich danach geht. Der Weg ist für dich immer noch nicht klar, aber dennoch sieht du ihn besser denn bevor. Wie als hättest du nach vielen Jahren herausgefunden, dass du eine Brille brauchst. Und nun hast du die Brille aufgesetzt und es erscheint alles deutlicher. Du hast nun ein Ziel vor Augen. Du hast nun auch Ideen, wie du das Ziel erreichst. Du kannst es gar nicht erwarten loszulegen, und doch hemmt dich die Ungewissheit.
Du bist immer noch introvertiert, doch fällt es dir nur einfacher deine Komfortzone zu erweitern. Du möchtest gar nicht immer mit Menschen zusammen sein und reden, und du weißt nun, dass das ok ist. Dennoch merkst du, dass du es manchmal brauchst. Dein Empathie Empfinden ist feiner geworden, doch merkst du auch, dass du nicht von dem Schmerz eines jeden Menschen erfahren und beeinflusst werden möchtest. Du brauchst Distanz, um nah zu sein.
Du bist selbstbewusster geworden und hast herausgefunden, dass es für dich wichtig ist, für dich selbst und deine Meinungen, Interessen und Ideen, wie auch für andere Menschen einzustehen. Du hast gelernt stark zu sein. Und diese Stärke zeigt sich nicht nur in deinem Selbstbewusstsein. Nein, auch in deiner Fähigkeit Gefühle zu zeigen. In Tränen zu versinken, nur um dann in Freude aufzublühen.
Du hast gelernt, dass es nicht immer eine Lösung braucht. Oft reicht es, zu beobachten, zuzuhören, präsent und für andere da zu sein. Menschen sehnen sich nach einem sicheren Raum, um sich anderen mitzuteilen. Oft ist dies schon Heilung genug. Lösungen entstehen danach von allein.
Nun, lieber Rick, ich kann diese Liste bis in das Unendliche weiterführen und dir aufzeigen, was du so alles gelernt hast. Doch ist die Deadline für deinen Quartalsbericht längst überschritten. Daher rate ich dir, nimm das mit was ich dir erzählt habe, verpacke es in einen Bericht, mit dem du dich wohlfühlst und schicke ihn ab. Da wird sich deine Organisation sehr freuen.“
„Nun denn, lieber Spiegel, deine Worte sprechen von großer Weisheit. Ich werde tun, wie du mir rätst. Für deine Zeit und die Einsicht, die du mit gewährt hast, danke ich dir vom ganzen Herzen. Mach es gut, bis zum nächsten Mal!“